Im Schatten des Ringes
leckten.“
„Du ganz bestimmt nicht“, widersprach ich.
Er zuckte mit den Schultern. „Nun, meine Großmutter erinnert sich aber, und das ist praktisch dasselbe.“
„Hat sie auch das Gottesfeuer über das Land rollen sehen?“
„Nein, Heao. Nicht einmal meine Großmutter war so alt. Der Auszug in die Berge erfolgte lange Zeit vor mir … wenn er überhaupt stattgefunden hat.“
Die Blindheit meines alten Meisters vergessend, schüttelte ich den Kopf. Niemand, der die Bilder in den Katakomben des Tempels gesehen hatte, konnte annehmen, daß sämtliche Darstellungen den Tatsachen entsprachen; andererseits konnte niemand sie aber als völlig unsinnig abtun. Unter Rellars Lieblingsbildern befanden sich ländliche Szenen, in denen unbekleidete Männer und Frauen Lebermoos und Pilze auf den üppigen Hochflächen ernteten. Zugegeben, das Tafelland stand wieder in voller Blüte, und man konnte nicht umhin festzustellen, daß die warmen Winde alljährlich länger wehten, und man mußte wohl eingestehen, daß wir dieser Tatsache auch unseren stetigen Aufschwung zu verdanken hatten. Zurückweichende Gletscher interessierten mich über die Maßen, doch nur, weil sie durch ihren Rückzug weitere Passagen zu den unerforschten Immernachtbergen eröffneten, die an einigen Stellen von aktiven Vulkanen gespenstisch erleuchtet wurden. Und dahinter? Was war da? Niemand wußte es. Vielleicht herrschte dort ewige Nacht, wie die Tempelhüterinnen behaupteten, eine Hölle für verdammte Seelen. Vielleicht war dort aber auch der Himmel, wo die Götter sich in der Wärme von Flammenhüters Feuer aalten und das Gottesfeuer mit ungehorsamen Menschen fütterten, wie wir Torfziegel oder Kohlenstücke ins Feuer unserer Herde warfen. Tatsächlich müßten sie wohl ziemlich frieren, wenn sie sich auf Ölsucher verließen, denn Expeditionen über die Grenzen des Erobererkönigreichs hinaus waren selten. Unser Volk zog es aus Tradition vor, am warmen, gemütlichen Herd zu sitzen und sich Möglichkeiten auszudenken, wie man sich mit dem geringsten Aufwand kleiden und satt essen könnte. Vorstöße in neue Gebiete wurden denen überlassen, die von den ansteigenden Meeresfluten und von Erdbeben aus ihren Heimen vertrieben wurden, und, mit Ausnahme des Erobererkönigs und einiger weniger Nomadenstämme, neigten entwurzelte Leute dazu, sich so nahe wie möglich bei ihrem alten Wohnort anzusiedeln, und das so schnell wie möglich. Manchmal wurden wir von unserem Machthunger und unserem Eroberungsgeist oder von unseren Träumen in die Ferne getrieben.
„Akadem und die Hüterinnen werden sich heute versammeln, um über Chels Expedition zu beraten“, sagte ich leise.
„Wie hübsch du die Verantwortung für die Expedition auf Prinz Chel übertragen hast“, sagte Rellar.
„Er braucht eine neue Einkommensquelle, vor allem jetzt, wo sein Steinbruch unter Wasser steht. Wie sonst sollte er etwas Geeignetes finden, wenn er keine Forschungsreisen unternimmt? Er hat weitaus bessere Chancen als ich, Unterstützung für eine Expedition zu finden … vor allem jetzt.“
„Hat die Ächtung dir viele Schwierigkeiten gebracht?“
Ich hockte mich bei Rellar nieder und zuckte dabei die Achseln. „Nur wenn man bedenkt, wie unangenehm es ist, wenn man selbst keine Waren mehr einkaufen kann“, informierte ich ihn. „Jedoch, die ganze Sache hat auch eine spaßige Seite. Meine Freunde reagieren ziemlich verlegen und unsicher, weil sie wissen, daß ich recht habe. Sie gehen mir aus dem Weg, damit sie mich nicht aktiv ächten müssen.“ Ich lachte und hoffte dabei, daß mein Lachen nicht zu unecht klang.
„Ächtet deine Familie dich?“
Ich schaute Rellar an. Im goldenen Schimmer seiner Iris flackerte auch nicht ein Hauch von Belustigung. „Natürlich tun sie das nicht.“
„Es wird noch schlimmer werden, Heao, viel schlimmer. Der Tempel hat hinsichtlich der Nichtmenschlichkeit von Sklaven einen eindeutigen Standpunkt bezogen.“
„Ein religiöser Anachronismus“, meinte ich abfällig.
Rellar schüttelte den Kopf. „Wirf nicht alles durcheinander, Heao. Sklaven die Freiheit zu schenken ist eine politische und keine religiöse Sache. Der Tempel kann seinen Standpunkt nicht ändern, ohne wichtige Unterstützung von Seiten der Aristokratie zu verlieren. Die Befreiung der Sklaven hätte einen ökonomischen Umbruch zur Folge.“
Ich hob entsetzt die Hände. In jener Zeit war mir diese Geste nur zu vertraut. „Wir haben niemals den Vorschlag
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