Im Schatten (German Edition)
nachdem sie sich um ihren Vater und ihren Bruder gekümmert hatte, und versuchte an andere Dinge zu denken, als die bohrende Frage, warum ihre Mutter sich umgebracht hatte. Mehr als zwei Monate waren seither vergangen und noch immer hatte sie sich nicht getraut, die persönlichen Sachen von ihr durchzusehen. Sie hatte ihre Kleidung und Kosmetika auf Wunsch ihres Vaters aussortiert und die Dinge an sich genommen, aus denen sie Hinweise über das Motiv erhoffte. Sie hatte ihrem Vater – und sich selbst – versprochen herauszufinden, was zum Freitod ihrer Mutter geführte hatte und hoffte mithilfe des Tagebuchs, des Handys und des Stapels Briefe eine Antwort zu finden. Doch alles lag nach wie vor unberührt in dem Karton auf dem Fußboden neben ihrem Schreibtisch. Immer wieder hatte sie in den vergangenen Wochen auch noch am späten Abend zu ihren Büchern gegriffen, um für ihr Physikstudium zu lernen, heute Abend wollte es jedoch einfach nicht funktionieren. Sie musste unter Leute, brauchte Musik, vielleicht etwas zu trinken und einen Mann, in dessen Armen sie alles für eine Nacht vergessen konnte. Sie wusste nicht, ob es angemessen war, doch es interessierte sie nicht. So zog sie sich um, schminkte sich und machte sich auf den Weg in ihre Stammkneipe, in der sie schon so viele Abende begonnen hatte. Direkt über dem Lokal gab es eine beliebte Diskothek, die meist später am Abend zum allgemeinen Treffpunkt wurde. Wie üblich am Wochenende war es voll in der Kneipe, und sie traf viele Bekannte. Es tat Katherine gut, endlich wieder einmal aus dem Haus zu kommen und von ihren Problemen abgelenkt zu werden. Der Abend war ausgesprochen kurzweilig und es war kaum zu merken, wie die Zeit verging. Sie wollte sich gerade auf den Weg nach oben in die Diskothek machen, als sie an der Eingangstür ein bekanntes Gesicht entdeckte. Ohne seine Uniform sah er tatsächlich sehr gut aus. Das dunkelblaue T-Shirt und die Jeans passten viel besser zu seinen Augen und den Haaren, die, wie Katherine nun erstaunt erkannte, einen leichten Rotschimmer hatten. Im Sommer wird er sicherlich Sommersprossen bekommen , schoss es ihr durch den Kopf. Sie sah, wie Sven sich suchend umsah und dann zum Tresen durchkämpfte. Er bestellte etwas zu trinken und drehte sich danach um, mit dem Blick zum Geschehen in der Kneipe. Mühselig bahnte Katherine sich einen Weg durch die Menge, und als sie schließlich ihr Ziel erreicht hatte, legte sie ihm leicht die Hand auf den Unterarm, stellte sich gleichzeitig auf die Zehenspitzen, so dass sie ihren Mund näher an sein Ohr bekam, und versuchte sich gegen den Kneipenlärm durchzusetzen.
» Hallo Sven!« Als sie ein wenig von ihm abrückte, damit er sie besser sehen konnte, bemerkte sie den fragenden Ausdruck in seinen Augen, bevor er sie erkannte.
» Katherine! Wie geht es Ihnen?« Enttäuscht nahm sie sowohl die Tatsache zur Kenntnis, dass er sie nicht gleich einzuordnen gewusst hatte, als auch das fortwährende Siezen. Daher fiel ihre Antwort auch ein wenig kurz angebunden aus:
» Na ja. Wie soll’s schon gehen?« Ein entschuldigendes Lächeln glitt über seine Lippen.
» Ja, es war eine dumme Frage. Haben Sie mittlerweile einen Anhaltspunkt, warum Ihre Mutter es getan hat?«
» Nein. Wir wissen noch gar nichts darüber. Ich hatte auch noch keine Zeit, mich damit zu beschäftigen. Mein Vater ist noch immer so von der Rolle, dass ich ihn versorgen muss, wie ein kleines Kind. Ich hoffe, ich finde bald eine Haushaltshilfe für ihn. Und mein Bruder ist auch keine große Hilfe. Er kompensiert seine Trauer durch Trotz und Zurückgezogenheit. Aber egal. Sie sind schließlich nicht im Dienst, also müssen Sie sich den Quatsch auch nicht anhören. Ich habe Sie hier noch nie gesehen. Waren Sie noch nie hier?«
Er lächelt e noch immer, als er antwortete:
» Doch, zweimal in den letzten Wochen. Aber ich bin noch nicht so lange in der Stadt. Ich bin erst vor vier Monaten hierher versetzt worden. Und es dauert so einige Zeit, bis man alles kennen gelernt hat.«
Sie wurde n unterbrochen, denn sein Bier war fertig, und er fragte sie höflich, ob sie ebenfalls einen Getränkewunsch hätte. Zwar hatte Katherine ursprünglich vorgehabt, nicht mehr zu trinken, doch angesichts ihres neuen Gesprächspartners orderte sie ihrerseits ein Bier, mit dem sie Sven kurze Zeit später zuprostete. Sie wollte gern das Gespräch aufrechterhalten, denn sie musste sich eingestehen, er gefiel ihr ausgesprochen gut. Sie erinnerte sich
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