Im Schatten (German Edition)
Leben genommen.«
Ha! Da war er, der Strohhalm, nachdem sie gesucht hatte und den sie nun schnell ergriff. Eine Verwechselung! Tragisch aber Tatsache. Ihre Mutter, ihre lustige, lebensfrohe, ausgeglichene Mutter würde niemals Selbstmord begehen! Warum auch?
» Ihr Vater hatte einen Nervenzusammenbruch und ist zurzeit im Krankenhaus. Ihren Bruder haben wir noch nicht erreicht. Wissen Sie, wo er sein könnte?«
Katherine schüttelte den Kopf. Plötzlich fühlte sie eine große, kräftige Hand, die ihren Oberarm packte und sie auf einen Küchenstu hl schob. Dann glitt die Hand auf ihren Rücken und drückte ihren Oberkörper nieder.
» Kopf zwischen die Knie und tief durchatmen«, hörte sie eine tiefe Stimme sagen. Erst jetzt realisierte sie das Schwindelgefühl und die Übelkeit, die sich in ihr ausbreiteten. Das Handtuch war von ihrem Kopf gerutscht, und die feuchten Haare standen in alle Richtungen, wie die Stacheln eines aufgeschreckten Igels. Sie spürte die Hand über ihren Rücken streichen und hörte, wie die weiche, dunkle Stimme beruhigend auf sie einredete, als wäre sie ein verängstigtes Pony.
»Soll ich einen Arzt rufen, Sven?« Die Stimme des älteren Polizisten klang besorgt.
Sven! Der Name passte zu ihm. Er war zwar nicht besonders hünenhaft, jedoch blond und blauäugig, was sich ganz besonders mit dem scheußlichen Grün seiner Uniform biss. Katherine fischte jeden noch so kleinen und unbedeutenden Gedanken auf und spann ihn weiter, nur um die Wahrheit noch immer nicht begreifen zu müssen. Sie hob den Kopf und sah dem Polizisten namens Sven direkt in die Augen.
» Besser?«, fragte er sanft. Sie nickte. Plötzlich hatte sie das Gefühl, ihr würde die Kehle zugeschnürt. Ihre Mutter! Ihre geliebte Mutter! Ihr Halt, ihr Trost, ihre Freundin, mit der sie über alles reden konnte! Sie war tot! Selbstmord! Aber das konnte doch gar nicht sein. Gestern waren sie doch noch zusammen gewesen. Und dennoch wusste sie mit einer schockartigen Plötzlichkeit, es war so.
» Haben Sie vielleicht eine Ahnung, warum sie es getan haben könnte?«, fragte Sven leise. »Wir haben keinen Abschiedsbrief gefunden. War sie vielleicht krank? Hatte sie Probleme? In der Ehe, Alkohol, irgendetwas in der Art?« Er hatte die Augenbrauen hochgezogen und sah sie ermunternd an, doch Katherine konnte nur den Kopf schütteln.
» Ich weiß es nicht. Sie ist doch immer so fröhlich und ausgeglichen. Ich meine, sie war es«, verbesserte sie sich leise. Nach einer Weile fragte sie mit brüchiger Stimme: »Wo und wie?«
» Sie hat sich in der Garage erhängt«, sagte der ältere Mann, während Katherine und Sven sich noch immer in die Augen sahen.
» Oh mein Gott!«, entfuhr es ihr. Plötzlich brach alles in ihr zusammen und sie begann, haltlos zu weinen. Sehr sanft zog Sven sie in seine Arme und hielt sie fest, bis sie sich ausgeweint hatte. Es kam ihr wie Stunden vor, doch sie konnte einfach nicht mehr aufhören.
Erst ga nz allmählich beruhigte sie sich und konnte wieder einigermaßen klare Gedanken fassen. Sie musste nach Hause. Wenn ihr Bruder heimkam, musste jemand da sein, der ihn informierte. Sie wohnte seit anderthalb Jahren nicht mehr zu Hause. Die ersten beiden Semester ihres Studiums war sie noch in der elterlichen Wohnung geblieben, doch dann hatte sie sich eine eigene Bleibe gesucht. Ihr neunzehnjähriger Bruder machte eine Lehre und Katherine nahm an, er würde danach ebenfalls ausziehen. Ihre Eltern wohnten schon seit einer Ewigkeit in dieser Mietwohnung am Rande des Kieler Stadtzentrums. Sie hatte vier Zimmer, für jedes Kind eins, ein Schlafzimmer, ein Wohn- und Esszimmer sowie eine große Küche und ein Bad. Katherines Zimmer war nun zu einem weiteren kleinen Wohnzimmer umfunktioniert worden, mit einem Fernseher, einer Couch und einer Leseecke. Zur Wohnung gehörten zudem eine Mietgarage, ein Keller und ein Dachboden.
Langsam erhob Katherine sich und sagte:
»Ich gehe mich schnell anziehen. Ich muss nach Hause, falls mein Bruder kommt.«
» Soll ich Sie begleiten? Ich habe eh Feierabend«, fragte Sven und Katherine sah ihn erstaunt an.
» Ich meine«, fuhr er fort, »ich kann mir vorstellen, dass es ein ziemlich schwieriger Gang für Sie ist und Sie vielleicht nicht gern allein sein möchten.«
» Danke, das ist sehr lieb von Ihnen. Aber wartet Ihre Frau nicht mit dem Mittagessen?« Katherine merkte selbst, wie neugierig und für die Situation vollkommen unpassend es klang, doch Sven antwortete nur
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