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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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warf ich dem Unheimlichen scheue Blicke zu, in der Hoffnung, unter der Kapuze sein Antlitz zu erspähen. Vergeblich. Entweder hielt er sich zu geschickt im Schatten, oder er besaß gar kein Gesicht.
    War er einer der Dämonen, die, wie jeder weiß, in der Nacht zum Dreikönigstag über die Erde spuken? Diese letzte Raunacht und der folgende Tag vermögen Wunder zu vollbringen, Wasser mit Heilkräften und Tiere mit der menschlichen Sprache zu segnen. Aber auch die Dämonen kommen zu den Menschen, versunkene Glocken läuten aus unirdischen Tiefen, und der Teufel zieht mit seinem Heer auf Seelen-fang aus. Nicht wahr?
    »So zerlumpt und zerschunden werdet Ihr nie eine ehrbare Anstellung finden«, stellte der Dämon fest und bedurfte dazu keines besonderen Scharfsinns; mein von den Bettlern zerschlissener Mantel ließ mich wie eine Vogelscheuche aussehen. Mein Magen knurrte zur Beja-hung seiner Worte wie ein in die Ecke getriebener Straßenköter. »Und Hunger habt Ihr auch, keine Frage. Esst Euch satt und richtet Euch her, dann soll Euch auch ein guter Posten zufallen.«
    Zunächst allerdings fiel mit leisem Klirren ein kleines Ledersäckchen vor mir ins zertretene Ufergras. Ich ahnte, was es enthielt, wagte aber nicht, es anzurühren.
    »Geht morgen in den Justizpalast. Die hohen Herren werden dort sein, um dem Mysterienspiel im Großen Saal beizuwohnen. Fragt nach Dom Claude Frollo, dem Archidiakon von Notre-Dame. Er sucht einen verlässlichen Kopisten. Stellt Euch geschickt an, und Euer täglich Brot ist Euch sicher, Armand Sauveur!«
    Die Stimme sprach so leise, daß sie vom Rauschen der Seine verschluckt zu werden drohte. Mein Name war kaum zu verstehen, und der Schwarze verschwand, bevor seine Worte ganz verklungen waren. Ein Dämon, fürwahr, aber ein mir gutgesinnter offenbar. Wenn er kein Geisterwesen war, woher hätte der Schwarze meinen Namen kennen, woher meine Geldkatze haben sollen?
    Denn der hingeworfene Beutel war, ohne Zweifel, das Geschenk meiner Angebeteten zu einem längst vergangenen Weihnachtsfest. An-dächtig tasteten meine Finger über die Brokatstreifen, die Etiennettes zarte Hände auf das Leder geheftet hatten, und für die viel zu kurzen Augenblicke einer zärtlichen Erinnerung lag ich wieder in den weichen Armen der Geliebten.
    Meine Gedanken kehrten in die raue, kalte Wirklichkeit zurück, als meine Finger unter Brokat und Leder etwas Hartes ertasteten, und hastig lockerte ich die Schnur, um den Inhalt der Börse in meine Hand zu schütten. Die Wolken rissen ein wenig auf, und das Licht der Gestirne ließ blankes Kupfer glänzen und zwischen den Sols sogar das hübsche Silber von drei Turnoser Groschen. Der schwarze Dreikönigsdä-
    mon erwies sich als wahrer Wohltäter! Die Rückkehr der Lumpen be-fürchtend, ließ ich den unerwarteten Geldsegen hastig wieder in meiner Börse verschwinden, verbarg diese unter Wams und Hemd und sah zu, daß ich von diesem unseligen Ort fortkam.
    In den Gasthäusern der Seine-Insel wurde, wie in allen Spelunken der Stadt, ausgelassen die Dreikönigsnacht gefeiert. Völlerei war heute nicht nur erlaubt, sondern geboten. Strafe über den, der zuwenig aß! Sofern er Geld hatte, seinen Magen zu füllen, wie ich Glücklicher.
    ›Zum Hirschen‹ hieß die nächste Schenke, deren windschiefes Ein-gangsschild ein verwittertes Abbild seines Namenstieres zeigte.
    Von Vorfreude ergriffen, drückte ich die knarrende Tür auf und taumelte im Rausch vollkommenen Glücks in den dichten Dunst aus Wein- und Biergeruch, Schweiß und Bratenduft. Der nächste freie Tisch, und ich winkte eine offenherzige Magd heran, die in eindeutiger Absicht alles anbot, was ich nur wünschte. Nur flüchtig streifte ich die feisten, teigigen Knödel, die nahezu aus ihrem Ausschnitt fielen.
    Das war nicht das Fleisch, auf das ich aus war, nicht jetzt. Ich bestellte einen Krug Burgunder und einen Laib Weizenbrot und ein Stück Brie und eine große Portion von dem Lamm, das von einem Jungen über dem Feuer gedreht wurde und den Raum mit dem verlockenden Duft seiner Füllung schwängerte: Äpfel, Birnen, Zwiebeln und Speck roch ich heraus.
    »Zuvor eine fette Hühnersuppe für den Herrn?« fragte die dralle Magd, und ich nickte gierig.
    Kurz darauf stand die Suppe vor mir, so heiß, daß sie Blasen warf.
    Dazu kamen Brot und Käse und Wein, den das Mädchen aus einem Tonkrug in einen abgegriffenen Zinnbecher goss. Ich wollte nach dem Burgunder greifen, doch eine haarige Pranke, der eines Bären

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