Im Schatten von Notre Dame
sie glühten in dem Bartgestrüpp wie Kohlen, die jemand in dorniges Buschwerk geworfen hat. »Warum hörst du nicht auf den alten Colin?«
Er zerrte an meinem Arm. »Komm schon, Bruder. Ich mach mich eng, dann hast du ein Plätzchen im Hauptportal. Dort bist du vor dem Satan sicher.«
Ich wollte nur noch schlafen, folgte dem Alten willig und kauerte mich neben ihn. Mir träumte von Gutenberg, der mich in einer schmutzigen Druckerstube auf seine teuflische Erfindung gespannt hatte wie auf eine Folterbank. Daneben stand eine vermummte, finstere Gestalt, das Gesicht von einer Kapuze verhüllt. Ich dachte an den Geistermönch, der mir schon einmal geholfen hatte. Doch diesmal rührte sich der Schwarze nicht, erhörte nicht mein lautes Flehen. Der Drucktiegel senkte sich auf mich nieder, als sei ich ein Blatt Papier. Ich wollte von der Presse springen, aber Gutenberg hatte mich festgeschnallt.
Zur Strafe für mein Aufbegehren versetzte er mir einen schmerzhaften Schlag ins Gesicht.
Kapitel 2
Das Fest der Narren
Ich schrie und wand mich, um weiteren Schlägen zu entgehen. Kräftige Arme hielten mich gepackt, und jemand blickte mich tadelnd an. Nicht jene strenge, grausame Fratze, die mein Traum dem teuflischen Erfinder aus Mainz zugeschrieben hatte. Auch nicht der ge-sichtslose Schatten des Geistermönchs. Es war ein volles, rosiges Antlitz, das im rötlichen Licht der hinter Notre-Dame aufsteigenden Sonne gesund und gutmütig glänzte. Der dickliche Mann dazu trug das Gewand eines Zölestineroblaten und machte den zufriedenen, abge-rundeten Eindruck eines O.
Die Angewohnheit, Menschen mit Buchstaben zu vergleichen, mag mit meinem Handwerk zusammenhängen, jedoch fand ich darin schon häufig eine tiefere Wahrheit. Sind Buchstaben nicht Zeichen, die aus Bildern entstanden? Und wenn Buchstaben auf dem Papier alle Dinge ausdrücken, den Menschen eingeschlossen, müssen dann Menschen und alle Dinge unserer Welt nicht auch Buchstaben verkörpern?
»Seid nicht zu grob zu ihm, ihr Mesner!« ermahnte der Zölestiner die beiden Kirchendiener, die mich in ihrem festen Griff hielten. »Er hat nur verschlafen, der arme Tropf. Wer schläft, der sündigt nicht.«
»Ihr habt gut reden, Maître Philippot Avrillot«, schimpfte der Mesner zu meiner Linken so laut, daß mein Ohr schmerzte. »Ihr müßt nicht jeden Morgen das Bettelpack von Eurer Schwelle fegen!«
»Auch die Ärmsten sind Geschöpfe des Herrn, mein Freund.« Philippot Avrillot lächelte sanftmütig. »Beherzigt es, und bedenkt in Eurer Gnade, daß dieser Mann einfach nur verschlafen hat. Euer plötzlicher Zugriff hat ihn erschreckt, und er wehrte sich noch halb im Schlaf.
Doch den hat Eure saftige Ohrfeige sicher vertrieben.«
Der Laienbruder hatte recht. Meine Wange schmerzte, meine Glieder nicht minder. Mochten die Pariser beim Bau von Notre-Dame auch nur den besten Stein verwendet haben, als Lager für einen gesunden Schlaf waren die elf Treppenstufen vor dem Portal gleichwohl nicht geschaffen.
Zu Schmerz und Gliedersteifheit gesellte sich Verwirrung. Ich hörte Musik und Geschrei und blickte auf. Am Rande des Domplatzes zog eine Gruppe Maskierter – Teufel, Hexen und Dämonen – mit obszö-
nen Verrenkungen vorüber und verschwand, die entblößten Hintertei-le in Richtung der Kathedrale schwenkend, in der Rue Neuve. Das Fest der Narren hatte begonnen. Und die Bettler, mit denen ich das Nachtlager geteilt hatte, waren längst verschwunden. Auch der alte Colin.
Der gutmütige Zölestiner erlöste mich von den beiden Kirchendie-nern, indem er den Arm um mich legte und mich mit sich fortzog.
»Hast wohl gestern zu gute Geschäfte gemacht und die Münzen der Mildtätigkeit aus lauter Mitleid mit einem armen Wirt gleich in Wein umgesetzt, was? Und heute bist du müde wie ein Bauer nach dem Pflü-
gen.«
Ohrenbetäubendes Geläut mischte sich in seine letzten Worte. Maître Avrillot wandte den Kopf und blickte hinauf zu den Türmen von Notre-Dame. »Ein hübsches Gebimmel, das der Teufelssohn von Glöckner da veranstaltet. Bei allen wahrhaft Tauben unter den Bettlern von Paris, der gute Quasimodo ist heute ordentlich in Fahrt!«
Ich verstand den Sinn seiner letzten Worte nicht so ganz, das Gerede vom Teufelssohn und von den tauben Bettlern. Deshalb ging ich lieber auf den ersten Teil seiner Rede ein und versuchte ihm zu erklären, daß ich kein Bettelsack und nur durch widrige Umstände auf die Stufen von Notre-Dame gelangt sei.
»Aha, du bist also nicht
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