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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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sollte man es in diesem Fall Tritt nennen? – gegen den Schädel versetzte. Sie schwang sich auf mich wie ein Ritter auf sein Ross, und die Meute johlte beifällig.
    »Recht so, Escarbot, zeig dem feinen Pinkel, wer in der Nacht das Regiment führt!« – »Reite den Stutzer zuschanden, braver Escarbot!« –
    »Nehmen wir uns, was er uns nicht geben will, beim Hermes!« – »Und beim Merkur, falls es ‘nen Unterschied macht!« – »Reißt dem Pinsel die Kleider vom Leib!« – »Die Zähne aus dem Maul!« – »Die Haut in Fetzen!« – »Die Knochen aus dem Körper!«
    Mich derart aufgeteilt zu sehen, setzte ungeahnte Kräfte in mir frei.
    Ich bäumte mich auf und schüttelte die widerliche Spinne, die sie Escarbot (Käfer) nannten, ab. Das missgestaltete Wesen stauchte oder brach sich beim Aufprall einen Arm – oder ein Bein, wie man’s nimmt – und quiekte jämmerlich. Mich rührte das nicht, dachte ich doch vor allem an meine Knochen, meine Haut und meine Zähne. Doch kaum stand ich auf meinen Beinen, hing die Meute an mir wie eine Fuhre stein-schwerer Kletten und riß mich erneut zu Boden.
    Spitze Knochen und scharfe Fingernägel stachen in mein Fleisch.

    Schreie dröhnten mir in den Ohren. Speichel troff auf mich aus fauligen Mäulern. Knüffe, Püffe und Tritte ließen mich mit meinem Leben abschließen. Der Tod erschien mir beileibe nicht mehr so wün-schenswert wie noch kurz zuvor, gleichwohl ebenso nahe wie unausweichlich.
    Rasch erlahmten meine Kräfte unter der Vielzahl von Armen und Beinen, die mich traktierten und am Boden hielten. Eine erstaunliche Überzahl schmutziger Gliedmaßen, bedachte man die eben noch zur Schau gestellten Gebrechen. Manch ein Krüppel war plötzlich keiner mehr, hatte sein fehlendes Glied aus dem Nichts hervorgezaubert, um schmerzhaften Gebrauch davon zu machen.
    Als meine Pein alles andere auslöschen wollte, als ein würgender Griff um meine Kehle mir in einem nahezu gnädigen Akt den Atem zu rauben drohte, ließ der Druck der unzähligen Leiber unvermittelt nach. Ein Spiel, das die Lumpenkerle trieben, um mein Leid und ihren Spaß daran zu verlängern?
    Doch sie wichen vor mir zurück wie vor einem Aussätzigen, Erschrecken und Furcht in den eben noch höhnischen Fratzen. Wie ein Haufen Herbstlaub, der von einem Windstoß durcheinander gewir-belt wird.
    Es war ein schwarzer Wind, ein Nachtschatten, der unter das Bettelpack gefahren war. Ein seltsam unbeweglicher Wind, der nichts weiter tat, als starr dazustehen und in befehlender Geste einen Arm auszu-strecken, der in die Finsternis wies. Doch das genügte.
    Die Schnorrer und Halsabschneider erbleichten, bekreuzigten sich und riefen den Herrgott an, dessen Gebote sie eben noch sehr großzü-
    gig ausgelegt hatten. Fast erleichtert folgten sie dem stummen Befehl des Nachtschwarzen und ergriffen die Flucht, in solch wilder Angst, daß sie über ihre – vorhandenen wie nicht vorhandenen – Beine stolperten. Nur wenige Augenblicke nachdem ich mich als lebloser Fleischklumpen in der Seine hatte treiben sehen, war der letzte meiner Peiniger in den engen, düsteren Gassen verschwunden.
    Nur der Schwarze stand noch da, halb verschmolzen mit den Schatten, gehüllt in eine dunkle Kutte, deren weit vorgezogene Kapuze sein Gesicht in einem finsteren Loch verbarg. Ich lag am Boden, eine zerschundene Kreatur; wie ein geprügelter Hund, der ergeben zu seinem Herrn aufschaut.
    Seltsamerweise empfand ich kaum Erleichterung, geschweige denn Freude über meine wundersame Errettung. Das Gaunerpack war ein Schrecken gewesen. War dann die starre Gestalt, der Schrecken eines Schreckens, nicht eine noch größere Bedrohung? Von den würgenden Händen befreit, atmete ich durch, aufatmen konnte ich nicht. Zu ungewiss erschien mir, was diese unheimliche Nacht im Herzen von Paris noch für mich bereithielt.
    Der Schwarze trat auf mich zu, und mir war, als wehe plötzlich ein eiskalter Wind über die Ile de la Cité. Doch die Apfelbäume am Uferstreifen standen unbewegt, und das Wasser kräuselte sich nicht. Die Wolken verharrten am Himmel. Ich aber erschauerte und spürte, wie sich die Haare in meinem Nacken sträubten.
    Unheimlich, fast tonlos, drang ein flüsternder Singsang an mein Ohr: »Sucht Eure Sachen zusammen, die Nacht wird kalt.«
    Wem sagte er das! Verwirrt über die Besorgnis, die der Schwarze meiner Gesundheit angedeihen ließ, befolgte ich seinen Rat. Oder sollte ich sagen, seinen Befehl? Während ich so am Ufer herumkroch,

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