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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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Paris wanderte und sich in der grenzenlosen Finsternis verlor.
    Schlimmer als die Angst vor dem Neuen, dem Unbekannten, und die Verwirrung angesichts dessen, was Gutenbergs Jünger über den Erdkreis brachten, war nur die grobe Faust, die sich in meinem Magen zusammenballte, mir die Gedärme zuschnürte und mir zum Bewußtsein brachte, daß Gevatter Hunger sich anschickte, meinen Entschluß, freiwillig aus diesem nicht länger lebenswerten Leben zu scheiden, zunichte zu machen. Ich hatte auch nicht einen trockenen, schimmelpel-zigen Brotkrümel im Magen und nicht einen Sol in der Börse, um diesem höchst mißlichen Zustand abzuhelfen. Um aufrichtig zu sein: Ich besaß nicht einmal mehr eine Geldkatze. Das mit teurem Brokat besetzte Ledersäckchen, Erinnerung an eine bessere Zeit, hatte sich bei einem knauserigen Pfandleiher auf dem Pont-aux-Changeurs in den Gegenwert von einem Krug Aniswein, einem Laib Roggenbrot und einem guten Stück Brie verwandelt. Zwei Abende war das jetzt her, und von den Köstlichkeiten war nicht einmal mehr die Erinnerung an den Geschmack übrig.
    Ich drehte mich um mich selbst wie ein vom Veitstanz Heimgesuchter, ohne daß mein suchender Blick Hilfe oder wenigstens Hoffnung fand. Düster und menschenleer erschien die Seine-Insel, umspült von den unermüdlichen Wassern des großen Stroms. Längst hatte die Angelusglocke drüben an der Sorbonne die Nachtruhe befohlen. Die Ge-räusche aus den Handwerkerstuben waren ebenso verhallt wie die Stimmen der in lilafarbener Pracht umherstolzierenden Ausrufer, welche die Festlichkeiten des morgigen Tages angekündigt hatten. Zu Ehren von Kaspar, Melchior und Balthasar sollten vor der Kapelle des Ar-nauld de Braque ein Maibaum aufgestellt, im Justizpalast ein Mysterienspiel des jungen Dichters Pierre Gringoire aufgeführt und auf der Place de Grève ein Freudenfeuer angezündet werden.
    Vermaledeiter Grève-Platz! Nicht weit von mir lag er am rechten Flussufer, nichts als ein riesiger dunkler Fleck in der alles verschlin-genden Schwärze. Sollten sie dort morgen die Heiligen Drei Könige und das Narrenfest feiern, mit tausend Feuern meinethalben. Mir war es einerlei, ich würde es nicht mehr erleben, würde keinen Fuß mehr auf diesen Platz der Schande setzen. Geh zur Place de Grève, hatten sie mir geraten, früh am Morgen, und ein paar ehrlich verdiente Sols werden dir sicher sein. Pah!
    Ich stand mir in klirrender Morgenkälte die Beine in den Bauch, ohne auch nur ein einziges Mal Arbeit zu erhalten. Zu viele andere, die mit mir froren, wollten das gleiche. Keine Erfahrung, taten die Baumeister mich hochmütig ab. Zu feine Hände hätte ich, eher zum Nä-
    hen und Sticken geeignet, spöttelten die Flussschiff er und die Fuhrleu-te. Und als Kopist zu arbeiten, in meinem angestammten Beruf, erwies sich erst recht als unmöglich. Gutenbergs teuflische Erfindung hatte viele Pariser Schreiber um ihre Anstellung gebracht, und die hielten zusammen, gönnten keinem Zugewanderten etwas. Geh doch zurück nach Sablé, sagten sie, doch das konnte ich nicht.
    Das Unglück hatte mich kurz vor dem Weihnachtsfest in meiner Heimatstadt ereilt, als mein Dienstherr, der ehrenwerte Advokat Donatien Frondeur, zu früh von einer auswärtigen Angelegenheit heimkehrte und mich an dem einzigen Ort in seinem Haus vorfand, an dem ich seiner Meinung nach nichts zu suchen hatte. Aber wer will mir ver-
    übeln, daß die kecken Blicke und die frischen Rundungen seiner viel zu jungen, viel zu hübschen Gemahlin Etiennette mich in ihr großes, warmes Bett lockten?
    Der alte Knaster Donatien war so aufgebracht, daß er sich wie ein Rasender auf mich stürzte. Um meine Gurgel vor seinen Klauen zu retten, schubste ich ihn weg, und er stieß sich den fast kahlen Schä-
    del ein wenig unsanft an einer Kommode. Das bißchen Blut, viel war es wirklich nicht, versetzte ihn in noch größeren Zorn. Wenn ich Sablé nicht augenblicklich verließe, brüllte er mich an, würde er mich wegen versuchten Mordes an den Galgen bringen. Er hatte die Macht dazu und ich zu wenige einflussreiche Freunde. Also ließ ich die süße, um Verzeihung wimmernde Etiennette unter seinen strafenden Händen zurück und stapfte im ersten Morgendunst durch den Schnee davon, um rechtzeitig zum Fest des Herrn in Paris zu sein, wo ich neue Gunst zu finden hoffte. Welch trügerischer Schluß!
    Hinter mir erhob sich die Königin der Insel, ja von ganz Paris: die Kathedrale von Notre-Dame. Unter ihren unzähligen

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