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Im Schattenwald

Im Schattenwald

Titel: Im Schattenwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
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Gewalt Platz verschaffen wollte, machte er alles nur noch schlimmer.
    Eine dichte Wolke aus Erde und Staub bedeckte seinen Pelz und füllte seine Lungen - der Tunnel hinter ihm war eingestürzt.
    »Hilfe! Hilfe! Hört mich denn niemand?« Seine Stimme wurde vom Erdreich verschluckt.
    Das war’s , dachte Samuel. Ich bin lebendig begraben. Das ist das Ende.
    Aber das war es nicht. Die Erde hörte auf, von der Decke zu stürzen, kurz bevor sie Samuels Hinterläufe erreichte. Er war rundherum von Erde umgeben, wie in einem Sarg.
    Sarg.
    Das Wort hallte in seinem Kopf, ehe er mit neuer Energie zu wühlen begann. Vorwärts und aufwärts.
    Jeden Moment konnte die Decke vollständig einstürzen und ihn zu einem weiteren toten Hasen in einer Welt voller toter Hasen machen. Er scharrte sich nach oben und machte sich keine Gedanken darüber, an welcher Seite des Geheges er womöglich an die Oberfläche gelangen würde. Die Panik hatte ihm neue Kräfte verliehen, auch wenn ihm das Atmen zusehends schwerer fiel.
    Beim Schwimmunterricht in der Schule hatte er eine ganze Bahn tauchen und danach einen Plastikring vom Grund des Beckens holen können. Doch als Hase war er vollkommen unfähig, die Luft anzuhalten.
    Er meinte, ersticken zu müssen, und wurde plötzlich vollständig von Erde begraben. Alles war schwarz.

    Ich bin tot , dachte Samuel. Nein, ich denke noch. Also muss ich am Leben sein.
    Die Erde auf seinem Kopf fühlte sich leicht an. Er schüttelte sie ab, zwinkerte und sah sich auf einmal im Freien.
    Es ist dunkel. Ich muss den ganzen Tag lang gegraben haben.
    Er schaute sich um und sah, wie ihn die Hasen von der anderen Seite des Zaunes aus anstarrten.
    »Er hat Thubula betrogen!«
    »Er hat das Paradies verschmäht!«
    »Schande über ihn!«
    »Schande!«
    Grauschwanz stand schweigend am Ende des Geheges.
    Was hätte der alte Hase auch sagen sollen? Samuel hatte ihm gezeigt, dass es möglich war zu fliehen, ehe …
    »Aaaaah!«
    Samuel wurde an seinen Ohren nach oben gerissen. Als er den bekannten Griff spürte, wusste er sofort, dass ihn der Trollvater gepackt hatte.
    »Nein!«, schrien die anderen Hasen. »Nicht ihn! Nimm mich! Nimm mich! Er ist der Günen Weide nicht würdig!«
    Doch der Trollvater gestattete sich, anderer Meinung zu sein. »Wärst du uns doch fast entwischt!« Er hielt Samuel vor sich in die Höhe, während er zur anderen Seite des Hauses hinüberging. »Aber mach dir keine Hoffnungen, mein pelziger Freund. Bald kannst du versuchen, einen Tunnel in unseren Bäuchen zu graben.«

Das Wunder
    A ls sie den Holztisch erreichten, hatte Samuel das Gefühl, seine Ohren würden gleich abreißen. Er sah, wie sich der leuchtende weiße Mond im Metall des Messers spiegelte, und wusste genau, was gleich geschehen würde.
    Die dröhnende Stimme des Trollvaters schien meilenweit entfernt zu sein: »Ich hab alles vorbereitet, Trollmutter. Dem wird man leicht die Haut abziehen können.«
    Die Tür öffnete sich, worauf die blinde Trollmutter vorsichtig auf den Tisch zustapfte. »Na, wo ist er denn?«, fragte sie mit ausgestreckten Armen, wobei ihre Hände sich öffneten und schlossen wie gefährliche Pflanzen.
    Der Trollvater wuchtete Samuel auf den Tisch und hielt ihn dort mit seiner starken Hand fest. Auf der Klinge des massiven Messers starrte ihn Samuels angstvolles Hasengesicht an.
    »Ah, da ist er ja!«, sagte die Trollmutter, während ihre Finger durch sein Fell glitten. Plötzlich griff sie energisch in seinen Pelz, als wolle sie das Leben spüren, das sie ihm gleich nehmen würde. »Da ist er!«
    Samuel konnte kaum glauben, dass es dieselben Trolle waren, die ihn vor zwei Tagen so freundlich behandelt hatten.
    »Ich bin’s!«, rief Samuel. »Ich bin’s, ein Mensch, kein Hase. Ich weiß zwar, dass ich wie ein Hase aussehe, aber ich bin keiner. Ich bin verändert worden. Bitte …«
    Doch natürlich half es nichts.

    Sie konnten ihn nicht hören. Trolle verstanden Menschen und Menschen verstanden Trolle, doch keiner von ihnen verstand Hasen.
    Er versuchte zu überschlagen, wie viel Zeit ihm noch blieb. Die Trollmutter musste sich zuerst das Auge einsetzen, danach das Messer schärfen und dann … nun, das war wohl alles, was sie noch zu tun hatte. Wie lange sie für diese beiden Tätigkeiten brauchen würde, wusste Samuel nicht, doch es war exakt die Zeit, die er noch zu leben hatte.
    Irgendetwas flatterte über Samuels Hand. Ein kleiner Punkt, der sich in dem kalten Metall vor seinem Gesicht

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