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Im Schattenwald

Im Schattenwald

Titel: Im Schattenwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
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aufstellte und rief: »Ruhe!«
    Es folgte ein Augenblick der Stille.
    Dann sagte er: »Lasst ihn, er ist ein Mensch! Das ist die unwissendste Hasenart, die es gibt. Ich werde ihn darin unterweisen, wie uns Thubula auf die Grüne Weide vorbereitet.«
    Samuel sah, wie die zornigen Hasen langsam zurückwichen und ihre verängstigten Kinder trösteten. »Nein, nein, so hat er das nicht gemeint«, hörte er zufällig einen Hasenvater sagen. »Es gibt keine Trolle. Habt keine Angst.«
    Der alte Hase sah dem Neuankömmling direkt in die Augen.
    »Du bist verblendet!«, sagte er. »Sobald du die Reinheit deiner Seele unter Beweis gestellt hast, beauftragt der mächtige Thubula seine Diener, dich in das Land zu bringen, wo alle Hasen frei sind.«
    Da platzte Samuel endgültig der Kragen, und da er ein Hase war, sah er auch keinen Grund, sich zusammenzureißen.

    »Das ist eine Lüge, du blöder alter Hase! Die Geschöpfe, die uns in dieses Gehege sperren, sind Trolle . Es sind nicht die Diener des Thubula. Ich kenne diesen Thubula nicht, und ich denke, die kennen ihn auch nicht.«
    »Thubula ist der allmächtige Hase, der alles geschaffen hat«, sagte Grauschwanz. »Thubula sprang über die Erde und hat die Täler mit seinen riesigen Füßen gemacht. Thubula hat dich und mich und jedes andere Lebewesen allein durch seine Vorstellungskraft geschaffen.«
    Samuel brummte der Kopf. Das Einzige, was er mit Sicherheit wusste, war, dass er hier rausmusste.
    »Du hast keine Chance, auch wenn du noch so gern fliehen möchtest«, sagte Grauschwanz, während sein Blick am Gehege entlangwanderte. »Der Zaun ist zu hoch, der Maschendraht zu fest und der Boden zu hart. Das ist die Wahrheit. Eine Flucht ist unmöglich.«
    »Woher willst du das wissen, wenn du es noch nie versucht hast?«
    Grauschwanz seufzte. »Du musst verstehen, dass es verschiedene Arten der Flucht gibt.«
    Samuel folgte seinem Blick, der sich auf die Hasenschar am anderen Ende des Geheges richtete.
    »Wie … wie meinst du das?«, fragte Samuel.
    Zwei übermütige Hasenkinder balgten sich und versuchten im Spiel, nach den Ohren des anderen zu schnappen.
    »Siehst du, wie glücklich sie sind?«, fragte Grauschwanz.
    »Ja.«
    »Das ist die Art von Flucht, die ich ihnen und ihren Eltern anbiete. Und jedem Einzelnen, der sich in diesem Gehege befindet.«
    Samuel hörte ihm kaum noch zu. Er versuchte, ein Loch zu graben, doch Grauschwanz hatte Recht - der Boden war einfach zu hart.

    »Es würde mehr als einen Tag in Anspruch nehmen, einen Tunnel zu graben … und ehe du fertig bist, werden sie dich schnappen und das Loch wieder zuschütten«, sagte Grauschwanz. »Ich habe es versucht, in der Nacht, als ich hierherkam. Fünf volle Monde ist das jetzt her … Ich bin der einzige Hase von damals, der immer noch da ist. Doch damals sah es hier anders aus. Es herrschte totales Chaos. Alle hatten panische Angst vor dem Sonnenuntergang, weil sie wussten, welches Schicksal sie womöglich erwartete.«
    Samuel hörte auf zu graben. »Aber ich dachte, alle sind glücklich hier.«
    »Das sind sie auch«, erwiderte Grauschwanz. »Dafür habe ich gesorgt.«
    »Wie … ich verstehe nicht.«
    »Jeden Abend verschwand ein weiterer Hase. Und jeder hatte Angst, dass er als Nächster an den Ohren gepackt und hochgezogen würde.« Grauschwanz machte eine Pause und blickte zum kleinen blau gefiederten Vogel hinüber, der sich gerade auf einer Ecke des Geheges niedergelassen hatte.
    »Und was ist dann passiert?«, fragte Samuel.
    Grauschwanz seufzte erneut. »Wenn neue Hasen ankamen, habe ich ihnen eine Geschichte erzählt.«
    »Eine Geschichte?«
    »Über Thubula, den allmächtigen Hasen.«
    Grauschwanz betrachtete Samuel eine geraume Zeit, als sei er ein Problem, das er nicht lösen konnte.
    »Vor zwei Tagen«, sagte er, »haben wir einen unserer liebsten Freunde verloren, Zitternase. Er war ein junger Hase in der Blüte seiner Jahre. Sie kamen am Abend und nahmen ihn mit sich fort. Und jetzt frage ich dich, woran man lieber glauben soll. Daran, dass er getötet, gehäutet, gekocht und im Magen eines Trolls verdaut wurde? Oder daran, dass er von Thubula auserwählt wurde, bis in alle Ewigkeit glücklich
im Hasenparadies auf der anderen Seite des Hauses zu leben?«
    Samuel kannte die Antwort nicht, also schwieg er. Doch plötzlich durchzuckte ihn ein furchtbarer Gedanke, während Grauschwanz’ Worte in seinem Kopf widerhallten:
    Vor zwei Tagen. Gekocht und … verdaut.
    Der Hase, den sie ihm

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