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Im Schattenwald

Im Schattenwald

Titel: Im Schattenwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
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Grauschwanz. Ich bin das geistige Oberhaupt unserer Gemeinde. Ich darf dich hiermit willkommen heißen … was tust du da eigentlich?«
    »Ich fliehe«, sagte Samuel und befreite sich mit einer Pfote aus den Maschen. Er drehte sich nicht um.
    »Und warum in Thubulas Namen willst du das tun?«
    »Weil ich kein Hase bin, sondern ein Mensch. Ich bin ein Junge und heiße Samuel. Ich bin in den Wald gegangen, um meine Schwester zu finden, doch jetzt habe ich ein Fell und diese Ohren … und … Ich muss hier weg.«

    Samuels Nase begann langsam zu zucken. Zunächst wusste er nicht, wie ihm geschah, doch dann begriff er, dass Hasen auf diese Art weinten.
    »Es besteht nicht der geringste Grund, Angst zu haben«, sagte der alte Hase besänftigend.
    »Was ist ein Mensch, Daddy?«
    Samuel drehte sich um und erblickte ein kleines Häschen, das zu Grauschwanz aufblickte.
    »Ein Mensch ist ein Hase von der anderen Seite des Waldes. Macht euch keine Sorgen, ihr Kleinen. Menschen sind wie wir … nur vielleicht ein wenig verwirrt.«
    »Ich muss fliehen!«, sagte Samuel.
    »Fliehen?« Das Wort wogte durch die Hasenschar - wie die Wellen eines Kieselsteins, den man ins Wasser wirft.
    »Hier ist es gefährlich! Ihr solltet alle versuchen zu fliehen.«
    Die Hasen brachen in schallendes Gelächter aus. Nur die Schnurrhaare von Grauschwanz bewegten sich kein bisschen.
    »Manche Hasen wollen uns gleich am Anfang wieder verlassen«, sagte er. »Das ist ganz normal. Doch ich werde dich in der Wahrheit unterrichten, so wie ich auch die anderen unterrichtet habe.«
    »In der Wahrheit?«
    »Ja«, sagte Grauschwanz. »In der Wahrheit. Denn ich habe das Gefühl, dass du Gerüchten glaubst.«
    »Gerüchten?«, fragte Samuel.
    »Gerüchten, die hier oft die Runde machen - über unsere Hüter. Manche behaupten doch tatsächlich, es handele sich um Trolle, die uns die Haut abziehen, den Kopf abschlagen und uns in großen Töpfen kochen.«
    Als Grauschwanz »abschlagen« und »kochen« sagte, bebte das gesamte Gehege vom kollektiven Lachen der Hasengemeinde.

    »Aber das ist die Wahrheit!«, rief Samuel, dessen Worte in der allgemeinen Heiterkeit untergingen.
    »Die Wahrheit ist, dass wir glücklich sind«, sagte Grauschwanz. »Wir sind die Auserwählten.«
    »Die Auserwählten«, murmelten die anderen Hasen ehrfürchtig.
    Samuel traute seinen Ohren nicht. »Die Auserwählten?«
    »Die Diener des Thubula haben uns hierher gebracht.«
    »Die Diener des Thubula?«
    Grauschwanz erzählte ihm vom unschätzbaren Glück aller Hasen in diesem Gehege, weil sie von den Dienern des Thubula - Samuel wusste, dass es sich um die Trolle handelte - auserwählt worden seien, eines Tages auf der Grünen Weide auf der anderen Seite des Hauses zu leben. Natürlich hatte es da einen kleinen grünen Flecken gegeben, den Samuel überquert hatte, als er vor den Huldren geflüchtet war, doch mit der Grünen Weide, an die die Hasen glaubten, besaß er keinerlei Ähnlichkeit.
    »Die Grüne Weide des Thubula ist das Paradies, in dem sich alle Hasen frei bewegen können, weil sie es nicht nötig haben, sich in unterirdischen Labyrinthen zu verstecken«, sagte Grauschwanz. »Es ist ein magischer Ort, an dem alte Hasen wieder jung werden und niemals sterben.«
    »Nein!«, widersprach Samuel. »Der Ort auf der anderen Seite des Hauses ist das genaue Gegenteil. Er bedeutet den sicheren Tod für alle Hasen. Die Trolle haben ein Hackbrett und ein Messer und …«
    Grauschwanz schloss die Augen und hob seinen Kopf dem hellblauen Himmel entgegen. »Es gibt keine Trolle. Es gibt kein Messer, und niemand stirbt. Ich sehe schon, es wird mich viel Zeit kosten, um deinen Kopf von diesem Aberglauben zu befreien.«
    Samuel hopste an Grauschwanz vorbei und wandte sich
direkt an die Hasengemeinde: »Hört mir zu! Das Einzige, was euch auf der anderen Seite des Hauses erwartet, ist der sichere Tod. Die Grüne Weide des Thubula existiert nicht!«
    Ein paar Hasenkinder begannen zu weinen, während die Erwachsenen aufgebracht riefen: »Schande über dich! Schande! Schande!«
    Grauschwanz flüsterte in Samuels Ohr: »Mach den Hasenkindern keine Angst. Niemand wird es dir verzeihen, wenn du den Häschen Angst machst.«
    Die Hasen hatten Samuel umringt und kamen immer näher.
    »Schande! Schande! Schande!«
    Samuel fragte sich für einen Moment, ob die wütenden Hasen vielleicht gefährlicher waren als die Trolle. Doch Grauschwanz brachte die erregte Menge zum Schweigen, indem er seine Ohren

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