Im Schlauchboot durch die Unterwelt
wusste der Dicke. »Na, das war doch ne Anschaffung für Generationen. So,
nun gucken wir mal weiter. Die Würgeschlange interessiert mich. Ich habe
nämlich neulich ner Kreuzotter den Kopf zertreten. Aber bei der dort hätte ich
mich das nicht getraut, hähäh.«
Die Kreuzotter steht unter
Naturschutz, dachte Matilde, du mieser Dickwanst. Aber was empöre ich mich?!
Kinder stehen unter noch ganz anderem Schutz. Doch der funktioniert nicht
immer.
Die beiden Besucher sahen sich
um. Matilde hörte das Telefon. Die alte Dame, die jeden Montagmittag zur Massage
gefahren wurde, sagte ab. Heute kein Taxi. Sie war bettlägerig wegen fiebriger
Erkältung. Matilde wünschte gute Besserung und rief ihren Vater über Taxifunk
an, um ihn zu informieren. Dann hatte die junge Frau Pause, lehnte sich an den
kleinen Kassentisch rechts beim Eingang und beobachtete die Besucher ohne jedes
Interesse.
Von hier konnte sie den
Aborigine nicht sehen. Aber sie spürte ihn, als käme er gleich aus dem hinteren
Raum. War das der Beginn einer Nervenkrankheit — diese ständigen Albträume? Der
glimmende Blick hatte sich in ihr Bewusstsein eingegraben. Und die ständige
Forderung nach Freiheit! Ja, Freiheit!
Das höchste Gut des Menschen
ist seine Freiheit, hatte ihr Großvater ihr eingeschärft. Wenn sie an ihn
dachte, wurde ihr warm ums Herz. Er war so ganz anders als ihr Vater —
jedenfalls war er zu ihr immer liebevoll, gütig und voller Verständnis gewesen.
Und ist es noch, dachte sie.
Denn er lebt ja. Dieser durchtriebene, alte Schlawiner!
Otto Kräsch war jetzt 76.
Leider wohnte er nicht mehr hier im Haus, sondern in seinen eigenen vier
Wänden. Einerseits wegen seinem Bedürfnis nach Freiheit, andererseits weil er
sich mit Erwin, seinem Sohn, überhaupt nicht verstand.
Es funktioniert einfach nicht,
dachte Matilde. Dabei — in punkto Gesetzestreue haben sich die beiden nichts
vorzuwerfen. Opa Otto ist sogar noch viel schlimmer gewesen in seinen jüngeren
Jahren. Die Schaustellerei war Fassade. Dahinter war er ein ausgebuffter
Ganove, eine Art Star in der Unterwelt. Aber erwischt haben sie ihn nie. Und
ein richtig gemeines Verbrechen hat er bestimmt nie begangen. Nein, kann ich
mir nicht vorstellen bei ihm. Stehlen, rauben, betrügen — ja. Aber keine
schmerzliche Gemeinheit gegen einen Menschen.
In letzter Zeit freilich machte
Opa Otto ihr Sorgen. Er benahm sich eigenartig, schien mutlos und müde zu sein
— als interessiere ihn das Leben nicht mehr. War er verbraucht — seine
Lebensuhr abgelaufen?
In diesem Moment fasste Matilde
zwei Entschlüsse: Sie würde dem Aborigine seine Freiheit wiedergeben — indem
sie sich von ihm trennte und sich damit hoffentlich von den Albträumen
befreite. Und sie würde Opa Otto besuchen, ihn einweihen wegen Susi und um Rat
und um Hilfe bitten.
»So, das war ja sehr gruselig«,
meinte der Dicke und kam heran samt Ehehälfte. »Aber jetzt knurrt uns der
Magen. So viel Horror macht Hunger. Gibt’s hier in der Nähe ein gutes
Restaurant?«
2. Die WM wird zur Tragödie
Gleich nach dem Mittagessen versammelten
sich TKKG bei Karl — also in der trutzigen Vierstein-Villa in der
Lindenhof-Allee.
Der Märztag war sonnig, die
allgemeine Stimmung auch. Tim saß neben seiner Freundin und lächelte sie an als
wäre es Mai und nicht März. Sie lehnte sich an ihn. Er wischte zwei kurze Haare
von ihren Jeans — ein schwarzes und ein weißes. Die stammten von Oskar, Gabys
schlappohrigem Cockerspaniel. Aber der war heute zu Hause geblieben —
vermutlich wegen Frühjahrsmüdigkeit.
Klößchen warf sich
Schoko-Stücke ein.
Karl, der im Schneidersitz auf
seinem Bett lagerte, hatte etliche Schriftstücke und eine Zeitung um sich
ausgebreitet.
»Im heutigen Tageblatt«,
erklärte Karl, »werden die Fakten nochmal zusammengefasst. Ich lese vor. Oder
ist jemand besser bei Stimme?«
»Deine Heiserkeit klingt
angenehm«, meinte Tim herzlos. »Also, lies!«
»Danke, Häuptling! Sobald ich
röchele, machst du weiter.«
»Klar doch.«
Bei Karl kratzte seit drei
Tagen der Hals. Der Gedächtniskünstler hatte das so oft erwähnt, dass es
inzwischen keiner mehr glaubte. Er klang auch kein bisschen heiser.
»Boxfreunde! Es bleibt dabei!«,
las Karl vor. »Der WM-Kampf, die Weltmeisterschaft im Mittelgewicht findet
statt. In Deutschland, hier in der berühmt-berüchtigten MZ-Halle, der
Mehrzweckhalle unserer Millionenstadt. Fausto Weichler, der deutsche
Herausforderer, ist bestens vorbereitet. Er gilt als
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