Das Wunder von Treviso
Prolog
«Maria, Antonio! Benehmt euch!» Nonna Cristina war ungehalten. Die Enkelkinder, acht und zwölf Jahre alt, hatten einfach keinen Sinn für gute Manieren. Christina musste mal ein ernstes Wort mit ihrer Tochter reden. Man konnte doch die eigenen Kinder nicht so verbauern lassen! «Putzt euch die Nase, setzt euch gerade hin und haltet endlich den Mund. Antonio, zwick deine Schwester nicht immerzu in den Arm. Und du, Maria, unterlass es bitte, deinem Bruder die Zunge rauszustrecken. Himmelherrgottnocheinmal!»
Nonna Cristina konnte wirklich böse werden, wenn ihre Versuche, den Kindern Kultur beizubringen, von irgendjemandem torpediert wurden, besonders von den Kindern selbst.
Die kleine Maria schaute sich um. Die Lüster imponierten ihr, sie tauchten das Opernhaus in einen feierlichen Glanz, wie sie ihn sonst nur aus der Kirche kannte. «Schau, Antonio», sie stupste ihren Bruder an, «wie in der Kirche!» Sie deutete nach oben.
«Quatsch, in der Kirche ist es viel dunkler. Und ruhiger. Und kühler ist es dort zum Glück auch.» Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Sein neuer schwarzer Anzug, den die Nonna eigens fürden Opernbesuch hatte anfertigen lassen, war eigentlich viel zu warm für diese Jahreszeit. Neidisch blickte er auf seine Schwester, die es in ihrem weißen Rüschenkleid weitaus luftiger hatte. Ihm war schon langweilig, bevor die Vorstellung überhaupt begonnen hatte. Maria dagegen konnte sich gar nicht sattsehen an den Tapeten und den feingekleideten Menschen um sie herum. Aufgeregt rutschte sie auf ihrem Sitz hin und her.
«Musst du noch einmal Pipi?», fragte Nonna Cristina mit einem Seitenblick auf Maria.
«Nein, Nonna.»
«Also Kinder, die Oper heißt ‹Der Barbier von Sevilla›. Es geht um einen verliebten Grafen, der mit allerlei Tricks die schöne … Antonio, sitz gerade! Und mach in der Oper keine Blasen. Wo hast du überhaupt den Kaugummi her? Seid brav, dann bekommt ihr in der Pause eine Limonade.»
In dem Augenblick hob sich der Vorhang, ging das Licht im Zuschauerraum aus, und Maria vergaß, dass ihre Schuhe drückten, ihre Unterhose kratzte. Sie bemerkte nicht einmal, wie Antonio versuchte, ihren Haarzopf mit seinem Kaugummi am Sitz festzukleben, was Nonna Cristina aber zum Glück noch rechtzeitig zu verhindern wusste. In den Auftrittsapplaus des Dirigenten mischte sich der Klaps von Nonnas Hand auf Antonios Hinterkopf, der daraufhin auf seinem Sitz zusammensank, um binnen der nächsten fünf Minuten friedlich einzuschlafen.
Maria dagegen verfolgte die Oper so gebannt, dassNonna Cristina sie in der Mitte des ersten Akts kurz selbst in den Arm zwickte, um sie vorsichtshalber ans Atmen zu erinnern.
In der Pause sogen die Kinder ihre Limonade derartig schnell ein, als ginge es um ihr Leben, wurden noch rasch der Vorsicht halber aufs Klo gehetzt, ging Antonio auf dem Weg von der Herrentoilette zum Parkett kurzzeitig verloren und schwor sich Nonna Cristina, den nächsten Ausflug lieber in eine Konditorei zu unternehmen, wenn nicht … ja, wenn sie nicht bei ihrer Enkelin eine so unbändige Begeisterung gespürt hätte, die ihr das Gefühl tiefster Selbstzufriedenheit verlieh. Wenigstens einer ihrer Nachkommen war kein Barbar! Bei dem Jungen schien ohnehin schon alles verloren.
Nach der Vorstellung beugte sich Nonna Cristina, die trotz ihrer dreiundsiebzig Jahre eine großgewachsene, aufrechte Statur besaß, tief zu Maria hinunter und fragte sie pflichtgemäß: «Maria, Schätzchen, wie hat es dir denn gefallen?»
«Es war großartig, Nonna.»
«Und was hat dir am besten gefallen?»
«Der Figaro, Nonna. Den fand ich toll.»
Verärgert nahm Nonna Cristina die Kinder bei der Hand und schleifte sie schimpfend hinter sich her: «Dreitausend Lire für die Karten, nur um einmal im Leben Giuseppe di Stefano als Graf Almaviva zu sehen, und wen findet das Kind toll? Den Friseur! Was für eine proletarische Brut ist da nur aus meinem Schoß gekrochen?»
Antonio war zufrieden. Er hatte es letztlich doch noch geschafft, den Kaugummi in Marias Haar zu platzieren. Und so kam es, dass Maria als Folge dieses Abends zum ersten Mal in ihrem Leben einen Friseursalon betrat. Hinterher berichtete der Friseur ihrer Großmutter, das Kind habe ihn während der kurzen Prozedur des Haareschneidens immerzu aufmerksam angesehen und ihn am Ende gefragt, ob er auch schon mal einem Grafen die Haare geschnitten habe. Was sage man dazu?
«Ja, in der Tat, was soll man
Weitere Kostenlose Bücher