Im Schwarm - Ansichten des Digitalen
geht die politische Beteiligung ohne jeden anstrengenden, langwierigen »Diskurs« vonstatten. Heute ist jenes von Flusser erträumte »außerordentlich verbesserte QUBE-System, an dem ein großer Teil der Menschheit teilnimmt«, Wirklichkeit geworden. Es macht digitale Wahlen möglich, die täglich und stündlich stattfinden. Die Politik erfolgt dann gleichsam nebenbei. Der Gefällt-mir-Button ist der digitale Wahlzettel. Das Internet oder das Smartphone sind das neue Wahllokal. Und der Mausklick oder ein kurzes Tippen ersetzt den »Diskurs«.
Flussers »direkte Dorfdemokratie« trägt wie seine Idee der Vernetzung utopische Züge. Entgegen seinem Glauben ist die politische Entscheidung im eigentlichen Sinne immer eine existenzielle Entscheidung. Jene »punktartigen, atomaren Entscheidungen«, die »augenblicklich wirksam« sind, sinken auf das Niveau einer unverbindlichen, folgenlosen Kaufentscheidung ab. Gerade auf dem Bildschirm vom QUBE ist die Unterscheidung von Wählen und Einkaufen ganz aufgehoben. Man wählt, wie man einkauft. So erweist sich die »Muse« als Shopping. Ihr Subjekt ist nicht Homo ludens, sondern Homo oeconomicus.
Das Einkaufen setzt keinen Diskurs voraus. Der Konsument kauft das, was ihm gefällt. Er folgt seinen individuellen Neigungen. Gefällt-mir ist seine Devise. Er ist kein Bürger. Die Verantwortung für die Gemeinschaft zeichnet den Bürger aus. Sie fehlt aber dem Konsumenten. Auf der digitalen Agora, wo Wahllokal und Markt, PoIis und Ökonomie in eins fallen, verhalten sich Wähler wie Konsumenten. Es ist abzusehen, dass das Internet bald das Wahllokal komplett ersetzt. Dann fänden Wahlen und Einkaufen wie beim QUBE auf demselben Bildschirm, d.h. auf derselben Bewusstseinsebene statt. Wahlwerbungen würden sich mit kommerziellen Werbungen vermischen. Auch das Regieren nähert sich dem Marketing. Die politische Umfrage gleicht dann einer Marktforschung. Wählerstimmungen werden durch Data Mining ausgekundschaftet. Negative Stimmungen werden durch neue attraktivere Angebote behoben. Hier sind wir nicht mehr aktiv Handelnde, nicht Bürger, sondern passive Verbraucher.
TOTALPROTOKOLLIERUNG DES LEBENS
Im digitalen Panoptikum ist kein Vertrauen möglich, ja gar nicht erst notwendig. Das Vertrauen ist ein Glaubensakt, der obsolet wird angesichts leicht verfügbarer Informationen. Die Informationsgesellschaft diskreditiert jeden Glauben. Das Vertrauen macht Beziehungen zu anderen auch ohne genauere Kenntnisse über diese möglich. Die Möglichkeit einer leichten und schnellen Informationsbeschaffung ist dem Vertrauen abträglich. Die heutige Krise des Vertrauens ist, so gesehen, auch medial bedingt. Die digitale Vernetzung erleichtert die Informationsbeschaffung dermaßen, dass das Vertrauen als soziale Praxis immer mehr an Bedeutung verliert. Es weicht der Kontrolle. So hat die Transparenzgesellschaft eine strukturelle Nähe zur Überwachungsgesellschaft. Wo Informationen sehr leicht und schnell zu beschaffen sind, schaltet das soziale System vom Vertrauen auf Kontrolle und Transparenz um. Es folgt der Effizienzlogik.
Jeder Klick, den ich tätige, wird gespeichert. Jeder Schritt, den ich mache, wird zurückverfolgbar. Überall hinterlassen wir digitale Spuren. Unser digitales Leben bildet sich exakt im Netz ab. Die Möglichkeit einer Totalprotokollierung des Lebens ersetzt das Vertrauen vollständig durch Kontrolle. An die Stelle von Big Brother tritt Big Data. Die lückenlose Totalprotokollierung des Lebens vollendet die Transparenzgesellschaft.
Die digitale Überwachungsgesellschaft weist eine besondere panoptische Struktur auf. Das Benthamsche Panoptikum besteht aus voneinander isolierten Zellen. Die Insassen können nicht miteinander kommunizieren. Die Trennwände sorgen dafür, dass sie einander nicht sehen können. Zum Zweck der Besserung werden sie der Einsamkeit ausgesetzt. Die Bewohner des digitalen Panoptikums hingegen vernetzen sich und kommunizieren intensiv miteinander. Nicht räumliche und kommunikative Isolierung, sondern Vernetzung und Hyperkommunikation machen die Totalkontrolle möglich.
Die Bewohner des digitalen Panoptikums sind keine Gefangenen. Sie leben in der Illusion der Freiheit. Sie speisen das digitale Panoptikum mit Informationen, indem sie sich freiwillig ausstellen und ausleuchten. Die Selbstausleuchtung ist effizienter als die Fremdausleuchtung. Darin besteht eine Parallele zur Selbstausbeutung. Die Selbstausbeutung ist effizienter
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