Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Sommer sterben (German Edition)

Im Sommer sterben (German Edition)

Titel: Im Sommer sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
Vom Netzwerk:
Alpen bot, herrschte noch immer reger Betrieb. Eschenbach setzte sich an einen freien Tisch und bestellte ein Bier.
    Einige der Gäste musterten ihn verstohlen. Andere wiederum grüßten freundlich oder winkten ihm sogar zu. Man hatte sie über den Vorfall befragt und ihre Namen aufgenommen. Irgendwie schienen sie erleichtert zu sein, dass alles vorbei war.
    Die Sensationslust, die in solchen Fällen oft ungehemmt zutage trat und die Polizeiermittlungen erschwerte, war hier diskret unter dem Deckmantel scheinbar nobler Gleichgültigkeit versteckt.
    An den Tischen wurde leise getuschelt. Man prophezeite dem Golfsport den Untergang und mutmaßte über Täterschaft und mögliche Motive. Die Clubleitung offerierte fein gekochte Häppchen und Champagner, der in filigranen Gläsern serviert wurde. Es schien, als wolle man für den entstandenen Schaden aufkommen und das Wohlbefinden der Gäste zurückerobern.
    Eschenbach fühlte sich fremd. Die Menschen, die hierhin zum Golfspielen kamen, waren in seinen Augen Flüchtlinge. Flüchtlinge aus unterschiedlichsten Ländern und Provenienzen. Die Länder hießen Langeweile, Stress oder Depression. Unglücklichsein. Überlastung. Humorlosigkeit. Lieblosigkeit. Blutarmut. Blutzucker. Herzenskälte. Herzinfarkt. Es gab viele Länder, aus denen es sich zu flüchten lohnte. Länder einer mehr oder weniger traurigen Welt, in der es von Äußerlichkeiten zu viel und von Innerlichkeiten zu wenig gab.
    Warum hatte man Philipp Bettlach erschossen? Eschenbach starrte auf den See und wünschte, die Sache wäre vorbei. Ausgestanden. Zu Ende, wie der Tag, der gerade zu Ende ging. Aber er wusste, in Wirklichkeit fing es erst richtig an. Die Befragungen auf dem Präsidium, die Presse und die Lügen jener, die sich zur Tat bekannten, obwohl sie nicht im Geringsten dafür in Frage kamen.
    Er bezahlte sein Bier und sah, während er dem Kiesweg folgte und zurück zum Auto ging, gedankenverloren auf den See hinunter. Es würde eine klare Sommernacht geben.
    Die heimkehrenden Schiffe waren mit ihren Positionslichtern gut auszumachen. Rot für Backbord, grün für Steuerbord. Eschenbach kannte sich aus. Ab und an, wenn es seine Arbeit erlaubte, fuhr er mit einem kleinen Fischerboot, das ihm ein Freund überließ, auf den See hinaus. Mehr zum Nichtstun als zum Angeln. Das Hantieren mit Nylonschnüren war ihm zu umständlich und der Gebrauch von Köderutensilien wie Blinker, Löffel, Fliegen und dergleichen ein Buch mit sieben Siegeln. Zeitunglesen und Baden – mehr brauchte er nicht. Manchmal lag er einfach nur auf Deck, ließ sich von den Wellen wiegen und sah in den Himmel, wo sich die Wolken jagten.
    Auf der Rückfahrt nach Zürich gingen ihm die letzten Stunden auf dem Golfplatz durch den Kopf. Der tote Golfer. Gemäß den Angaben der Clubleitung sechsundfünfzig Jahre alt, Vizedirektor einer Schweizer Bank und bei allen sehr beliebt. Glücklich, geschieden, keine Kinder, keine Feinde. Warum erschießt man solche Leute, fragte er sich. Und warum gerade so?
    Der Schuss musste aus einer erheblichen Entfernung abgegeben worden sein, sonst hätte man schon etwas gefunden. Möglicherweise mit einem Spezialgewehr, ausgelegt für große Distanzen.
    Die Leute von der Spurensicherung würden ihre Suche am nächsten Morgen bei besseren Lichtverhältnissen wieder aufnehmen müssen. Und wenn bis zu den Alpen hin jeder Grashalm umgedreht werden müsste …
    Eschenbach kam ins Grübeln. Die schier endlosen Hügelketten rund um den Golfplatz – ein gigantischer Heuhaufen, und nicht eine einzige Nadel.
    Er zog mutlos an seiner Brissago und blies den Rauch in kurzen Stößen durch das geöffnete Fenster in die laue Sommernacht hinaus.
    Wenn er in puncto Entfernung des Schützen kaum einen Anhaltspunkt hatte, so musste es doch gelingen, wenigstens in puncto Richtung präziser zu sein. Er musste herausfinden, in welchem Einschusswinkel die Kugel den Kopf durchschlagen hatte. Mehr noch, er musste herausfinden, wie der Golfer gestanden hatte, als die Kugel ihn traf. Wie war die Kopfstellung, die Ausrichtung des Körpers? Zu kompliziert, dachte Eschenbach. Alles unmöglich zu rekonstruieren. Aber genau das musste er herausfinden.

2
    Als Eschenbach am nächsten Morgen um halb acht in Richtung Bahnhofstraße ging, war es schon sommerlich warm. Sein Jackett, das er gar nicht erst angezogen hatte, hängte er sich locker über die rechte Schulter.
    Die Krisensitzung, von der er gerade kam, gab ihm für den Rest des Tages

Weitere Kostenlose Bücher