Im Sommer sterben (German Edition)
Kundenhalle.
Statt eines Türknaufs fand sich ein bronzener Löwenkopf. In die Höhle des Löwen, dachte Eschenbach, als er den Bronzekopf umfassen und eintreten wollte. Doch die Tür öffnete sich wie von Geisterhand, und ein angenehm kühler Luftstrom empfing ihn.
Der dunkelbraune Holzboden aus geölter Eiche und das weiche Licht, das von den weißen Wänden sanft gespiegelt wurde, gaben dem Raum eine schlichte Eleganz.
Rechts von ihm stand eine fast zwei Meter große Giacometti-Statue auf einem Sockel. Trotz der schlanken Silhouette schien die Bronzeplastik den ganzen Raum zu durchdringen.
Eine mollige blonde Dame, ein lieblicher Kontrast zu Giacomettis Kunstfigur, saß hinter einem Empfangstisch und lächelte.
Das metallene Klicken hinter Eschenbachs Rücken ließ ihn zusammenzucken. Reflexartig drehte er sich um. Er entspannte sich wieder, als er sah, dass es nur die Tür war, die, so geheimnisvoll wie sie sich geöffnet hatte, wieder ins Schloss gefallen war.
»Darf ich Ihnen helfen, Herr …«
Eschenbach drehte sich wieder und ging auf die Dame zu, die immer noch lächelte.
»Eschenbach, Kripo Zürich«, sagte er und zeigte seinen Ausweis. »Dr. Bettlach erwartet mich.«
»Aha.« Sie nahm den Telefonhörer in die Hand und wählte eine interne Nummer. Dann sprach sie kurz mit jemandem am anderen Ende der Leitung und legte wieder auf.
»Kommen Sie mit, Herr Kommissar.« Sie stand auf, begleitete ihn die paar Schritte bis zum Aufzug und hielt eine Magnetkarte vor ein kleines Plexiglasschild. Dann drückte sie den Knopf für die oberste Etage.
Dr. Johannes Bettlach war ein großer hagerer Mann. Sein graues Haar, das er streng nach hinten gekämmt trug, glänzte durch den einfallenden Sonnenschein fast weiß und war länger, als man es bei einem Bankdirektor vermutet hätte. Unter einer mächtigen Stirn saßen, in dunklen Höhlen verborgen, auffallend helle Augen. Seine Gesichtszüge waren streng, aber nicht unfreundlich.
Langsam schritt er durch das Zimmer auf Eschenbach zu.
An den Wänden hing zeitgenössische Kunst im Großformat, hinter dem Schreibtisch zog sich ein übervolles Bücherregal bis unter die Stuckdecke. Die Bücher, der dunkle Holzboden, der Buddha, der – auf einer Zigarrenschachtel thronend – vorübergehend einen Stapel Bücher zu stützen hatte, die Balletttänzerin in Bronze, die in scheinbar schwereloser Pose neben dem Telefonapparat schwebte, entsprachen allesamt nicht dem Bild, das Eschenbach vom Innenleben einer Schweizer Bank hatte.
Der Kommissar kannte die Kreditinstitute, die entlang der Bahnhofstraße residierten; die Marmorhallen mit Absperrungen aus kugelsicherem Glas, und auch die hochflorigen Teppiche in Grau oder Anthrazit, die in den oberen Direktionsetagen dieser Häuser den Boden bildeten für diskrete, distinguierte Lässigkeit. Sie waren ihm bekannt von einigen seiner früheren Ermittlungen. Aber das hier war anders.
Dr. Bettlach nahm mit beiden Händen seine Hand und umschloss sie mit einem leichten Druck. Es waren warme Hände, und trotz der unmittelbaren Intimität der Geste und der Fremdheit des Menschen, der ihn berührte, war sie ihm keineswegs unangenehm.
Er dachte daran, wie er als junger Leutnant der Schweizer Armee brevetiert wurde. Wie ihm sein Schulkommandant, Oberst Nydegger, im Mittelschiff der Kathedrale von Nancy feierlich die Hand gedrückt, ihm tief in die Augen geschaut und gesagt hatte: »Maintenant vous êtes officier de l’armée suisse. Le motto que je vous donne pour votre vie, vie militaire et vie privée, est: Esprit, Ecoute et Elan.«
Es war ein feierlicher Moment gewesen, ein Moment, der für eine lange Zeit in ihm weitergelebt hatte.
Auch le motto , wie die drei »E« in der Offiziersschule genannt wurden, war mit dem Händedruck des Obersten, wie ein Funken gutbürgerlicher Moral, auf die Wertvorstellungen des jungen Offiziers übergegangen. Und jetzt, in dieser merkwürdigen Situation, im Büro dieses Dr. Bettlach, kamen sie ihm wieder in den Sinn.
Eine kurze Weile standen die Männer da. Keiner sagte etwas, bis Dr. Bettlachs leise, zurückhaltende Stimme die Stille brach.
»Wollen wir uns setzen?«
Eschenbach steuerte auf den Ledersessel hin, den Dr. Bettlach ihm zuwies, setzte sich und spürte, wie ihn in dem Moment, als ihn das schwarze Leder aufnahm, eine tiefe Mattheit durchströmte. Er schloss für einen kurzen Moment die Augen. Dann öffnete er sie wieder. »Ich konnte Sie gestern nicht mehr erreichen. Es ist …
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