Im Totengarten (German Edition)
grüne Lederjacke hing über der Lehne des Stuhls.
Ich stellte den Wecker auf acht, legte ihn direkt neben ihr Kopfkissen und schlich mich wieder aus dem Raum. Mein Schädel dröhnte von dem abendlichen Alkoholgenuss, deshalb spülte ich zum Frühstück eine Kopfschmerztablette mit einem Glas Orangensaft herunter und zerrte mein Fahrrad durch das Treppenhaus.
An diesem Morgen nahm ich einen anderen Weg zum Krankenhaus, durchquerte das Karree georgianischer Gebäude, aus dem das alte Hospital bestanden hatte, und verfluchte Burns dafür, dass er mich zwang, etwas so Grässliches zu tun. Ich würde es bestimmt den ganzen Tag nicht aus meinem Kopf bekommen.
Die Leichenhalle, hinter deren Fenstern Jalousien heruntergelassen waren, lag versteckt hinter der Pathologie und blieb dort ganz für sich. Ich schob meine Karte durch den Schlitz neben der Eingangstür und ging hinein.
Es gibt zwei Leichenhallen im Guy’s. Die erste ist für Menschen, die unter normalen Umständen zu Tode gekommen sind. Ihre Körper werden ein oder zwei Wochen bei einer Temperatur zwischen zwei und vier Grad Celsius aufbewahrt und anschließend begraben oder verbrannt. Die zweite ist die sogenannte Kühlkammer, in der Leichen bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt, zwischen minus 15 und minus 25 Grad Celsius, Monate und manchmal sogar Jahre lagern, während die Forensik ihre Arbeit macht oder bis jemand sie identifiziert und haben will. Katholiken würden diese Halle sicher als besonders eisige Version der Vorhölle ansehen.
Ich betrat die Kühlkammer, suchte das Datum des Vortages an der Wand und zwang mich dann, die entsprechende Lade aufzuziehen. Leichen brachten mich immer ein wenig aus dem Gleichgewicht. Was einer der Gründe dafür ist, dass ich statt normaler Ärztin Seelenklempnerin geworden bin. Der Gedanke, mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt zu werden, um Hinterbliebene zu trösten und Totenscheine abzustempeln, hat mir nämlich noch nie behagt.
Ich atmete tief ein und öffnete den Reißverschluss des silbernen Leichensacks, aus dem mir neben einer Wolke gefrorenen Kondenswassers der bittere Geruch von Formaldehyd entgegenschlug. Das Mädchen sah höchstens wie siebzehn aus. Ihr Gesicht war völlig faltenlos, und unter dem blondierten Haar lugten braune Ansätze hervor. Sie war so dünn, dass ich jede einzelne Rippe zählen konnte, und sogar ein Laie hätte mühelos erkannt, woran sie gestorben war. Jemand hatte ihr die Kehle durchgeschnitten, und die Wunde war so tief, dass man ihre Luftröhre und ihren Kehlkopf deutlich sah. In der Hoffnung, mein chemisches Frühstück nicht gleich wieder loszuwerden, starrte ich einen Moment den grauen Gummiboden an. Jemand hatte Hunderte von kleinen, tiefen Kreuzen in die Haut von ihren Brüsten, ihrem Oberkörper und die Innenseiten ihrer Schenkel eingeritzt. Hoffentlich nachdem sie schon tot war. Ich warf einen Blick auf ihre Hand und erinnerte mich daran, dass sie mir am Abend auf dem Gehweg winzig klein erschienen war. Ihre Fingerkuppen waren blutig, und die Nägel waren eingerissen, so, als hätte sie verzweifelt tagelang an einer Backsteinwand herumgekratzt. Eine ihrer Schultern war mit einem schlichten Schmetterlings-Tattoo mit winzig kleinen, pinkfarbenen Herzen auf den Flügeln verziert.
Nach einer Minute machte ich die Lade wieder zu, auf deren Schild nur »Crossbones-Mädchen« stand. Ich konnte ihr nicht helfen. Erst mal müsste sie alleine hier im Kühlhaus bleiben und die Wunden pflegen, denen sie erlegen war.
Der Rest des Vormittags war ruhig: eine Teambesprechung, Telefonanrufe, eine Stunde, um meine Patientenakten durchzugehen. Am Nachmittag hingegen nahm das Treiben zu. Elf ambulante Patienten besuchten meine Antiaggressionsgruppe, und es war leicht zu sagen, wer aus freien Stücken und wer nur auf Drängen des Sozialarbeiters oder des Bewährungshelfers dort erschien.
Wir gingen die gewohnten Schritte durch: Vertraut euch jemandem an, bevor es zu einer Eskalation kommt, achtet auf eure Atmung, zählt bis zehn, geht einfach weg. Doch schon bei der ersten Übung sprang ein Mann mittleren Alters mit zornrotem Gesicht von seinem Stuhl.
»Das ist doch alles der totale Schwachsinn«, tobte er. »Ich brauche diese Scheiße nicht.«
Er stapfte aus dem Raum, warf die Tür so fest hinter sich zu, dass der Rahmen wackelte, und ich sah die anderen Teilnehmer des Kurses an. Sie alle waren es derart gewohnt, andere Menschen anzubrüllen oder ihre Fäuste zu benutzen, dass
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