Im Totengarten (German Edition)
wo es, wie sie hofften, immer dickere Prämien zu verdienen gab. Ich lief nach links ins Herz der alten Lederindustrie hinein. Die Straßennamen in Southwark hatten mich mehr als jeder Museumsbesuch über die Geschichte der Gegend gelehrt. Mason Close, Tanner Street, Leathermarket Street. Maurergasse, Färberstraße, Ledermarkt. Ich sah die Männer in den langen Schürzen vor mir, die Arme bis zu den Ellenbogen fettverschmiert, die Haut von all den Färbemitteln in verschiedensten Schattierungen gefleckt. Innerhalb der letzten hundert Jahre allerdings hatte die städtische Industrie einen enormen Wandel durchgemacht. Die Fabriken waren trendigen Designer-Lofts gewichen, aus denen die Menschen jeden Morgen in die City strömten, um dort den Tag vor ihren Computern zu verbringen, ehe es am Abend mit der U-Bahn wieder heimwärts ging, ohne dass ihnen seit dem Aufstehen auch nur ein einziger Schweißtropfen über die Stirn geglitten war. Kein Wunder, dass die Zahl der Depressiven so angestiegen war.
Ich lief durch die Gassen hinter dem Bahnhof London Bridge und sah einen Mann, der im Eingang eines Hauses schlief, während zu seinen Füßen ein Border Collie Wache hielt. In der Borough High Street musste ich mein Tempo drosseln, weil sich auf den Bürgersteigen regelrechte Menschenmassen drängten, die mit einem Kaffeebecher in der Hand aus den typischen griechischen und türkischen Cafés dieser Gegend auf diverse Busse warteten.
Die Empfangsdame auf dem Revier war eine prüde, doch beflissene Person mit zu Hunderten stocksteifer Locken aufgedrehtem grauen Haar, das sicher selbst die schlimmsten Stürme schadlos überstand. Sie erklärte mir ausführlich, dass ich nicht einfach hereinschneien und verlangen könnte, den ranghöchsten Beamten des Reviers zu sehen, doch als plötzlich Alvarez erschien, setzte sie mit einem Mal das sanfte Lächeln einer Lieblingsoma auf.
»Schon gut, Sheila«, erklärte er. »Alice arbeitet mit uns zusammen. Sie ist Psychologin.«
Die Frau starrte entsetzt auf meine abgetragenen Laufsachen, die eindeutig bewiesen, dass es um uns Seelenklempner offenkundig nicht zum Allerbesten stand, Alvarez jedoch führte mich den Gang hinab, wobei er noch schneller als gewöhnlich lief, als wäre er am liebsten vor mir weggerannt.
In seinem Büro ließ ich, noch bevor er etwas sagen konnte, meine beiden Briefe auf den Schreibtisch fallen.
»Ich dachte, ich bringe Ihnen ein bisschen leichte Lektüre für die Pause mit.«
Alvarez stand neben mir und berührte flüchtig meine Schulter, während er die Briefe überflog. Schließlich hob er eine Hand in seinen Nacken und blickte mich an.
»Wirklich nett«, murmelte er. »Und der zweite Brief kam heute früh bei Ihnen an?«
»Gestern. Nur hat meine Freundin nicht daran gedacht, ihn mir gleich zu geben.«
Alvarez zog seine Brauen hoch. »Sie haben zwei Todesdrohungen erhalten, es aber nicht für nötig gehalten, sie bei uns vorbeizubringen?«
»Ich habe Burns davon erzählt, aber ich wollte nicht so reagieren, wie es dieses Schwein erhofft.« Ich kreuzte meine Arme vor der Brust. »Der Kerl will mir Angst machen. Will, dass ich mir vor lauter Panik in die Hosen scheiße. Aber dieses Vergnügen gönne ich ihm nicht.«
Alvarez bedachte mich mit einem Blick, als wäre ich eins der größten Geheimnisse des Lebens, und trat wieder in den Korridor hinaus. Dadurch bekam ich die Gelegenheit, mich ein wenig umzusehen. Der Platz hinter seinem Schreibtisch wurde durch ein saftig grünes Landschaftsposter ausgefüllt, auf dem die Sonne gerade hinter einem Bergrücken versank, während man in der Ferne leuchtend blaues Wasser sah. Es war so positioniert, dass es ihn jeden Morgen grüßte, als beträte er sein ganz privates Paradies. Sein Schreibtisch war mit Akten übersät, die, um das Chaos zu begrenzen, ordentlich zu Stapeln aufgeschichtet waren. Auf seinem Aktenschrank standen zwei Aufnahmen ein und derselben Frau in schlichten Silberrahmen, deren Anblick mir aus irgendeinem Grund den Atem stocken ließ. Sie stand in einem roten Kleid an einem Strand, ihre dunklen Haare wehten in der Brise, und sie blickte strahlend auf den Menschen hinter der Kamera. Das zweite Bild war ein Hochzeitsfoto, das vor einer Kirche aufgenommen worden war. Sie war beinahe so groß wie Alvarez, und die langen, schlanken Finger ihrer linken Hand lagen auf seiner Brust, während ein Konfettiregen auf sie niederging. Bevor ich allerdings Gelegenheit bekam, mir dieses Bild genauer
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