Im Totengarten (German Edition)
das Wohnzimmer sehen. Deine Mutter hält den Mund, während dein Vater darauf wartet, dass sie sich bewegt oder ihm Vorhaltungen macht, denn dann hat er endlich einen Grund. Dein Mund ist voller Staub. Du machst die Augen zu, versuchst zu schlucken, und als du sie wieder öffnest, hat er deine Mutter bei den Armen gepackt, und ihre Hände baumeln schlaff neben ihrem Körper. Dein Bruder versucht, mit der geblümten Tapete zu verschmelzen. Es ist schwer zu sagen, was er denkt, ob sein Gesicht zu einer Grimasse oder einem Lächeln verzogen ist. Dein Vater landet einen Treffer nach dem anderen auf den Armen, Rippen und dem Oberkörper deiner Mutter. Morgen wird sie ihren Lippenstift auflegen, wie gewohnt zur Arbeit gehen, und die Nachbarn werden nie erfahren, was geschehen ist. Aber vielleicht geht er irgendwann zu weit, dann nimmt ein Krankenwagen deine Mutter mit, und niemand denkt daran, dich zu befreien.
Die größte Angst jedoch macht dir die Miene deines Bruders. Er wirkt vollkommen entspannt, als sähe er sich seinen Lieblingsfilm im Fernsehen an. Die Besenkammer schrumpft, und die Luft darin reicht nur für ein paar Sekunden aus. Du willst ins Helle rennen, doch du musst hier ausharren, bis es vorüber ist. Du lauschst auf die dumpfen Schläge deines Vaters. Deine Mutter gibt sich alle Mühe, nicht zu weinen, auch wenn hin und wieder gegen ihren Willen ein atemloses Stöhnen über ihre Lippen dringt. Dein Bruder lehnt sich an die Wand, macht es sich bequem und prägt sich das Vorgehen seines Vaters ein.
Das Trommeln der Schläge hat aufgehört, und du weißt, wie es jetzt weitergeht. Die Schritte deines Vaters nähern sich erneut dem Schrank. Es hat keinen Sinn, zu weinen, denn er kennt jedes Versteck in diesem Haus. Er hat deiner Mutter den Schlüssel aus der Rocktasche genommen, und es wird ihm vollkommen egal sein, ob du bettelst oder flehst. Tränen sind nur was für Heulsusen, erklärt er dann und schlägt noch fester zu.
1
Ich spähte in den Metallkasten, ohne ihn zu betreten. Er verströmte den vertrauten Geruch sämtlicher Fahrstühle im Krankenhaus, nach Seife und Desinfektionsmittel mit einem Hauch Urin und Angst. Bisher hatte ich die Fahrt in die psychiatrische Abteilung in der vierundzwanzigsten Etage nur ein einziges Mal – mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem – hinter mich gebracht. Eingeengt und ohne Luft und Fenster, durch die ein Entkommen möglich war. Ich hielt die Tür mit einer Hand auf und zwang mich, die Kabine zu betreten, doch sofort setzte die Panik ein, und ich spürte, wie das Adrenalin durch meinen Körper schoss. Die verspiegelte Rückwand warf mein Bild zurück. Mein Gesicht war kreidebleich und angespannt, und meine Augen glitzerten vor Angst. Ich sah aus wie ein kleines blondes Mädchen, das die schicksten Kleider seiner Mutter trug. Ich schob mich rückwärts aus dem Lift, und die Türen schnappten zu und bissen mir fast die Finger ab. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu Fuß zu gehen, auch wenn es zweihundertachtundsiebzig Stufen waren. Inzwischen hatte sich mir die Beschilderung in jedem Stockwerk eingeprägt: Onkologie, Urologie, Orthopädie, Röntgen. Aber wenigstens hielt mich der morgendliche Aufstieg fit, und wenn ich in einem gleichmäßigen Tempo ging, war ich in weniger als sechs Minuten da.
Ich war außer Atem, als ich ein paar Minuten vor meinem ersten Termin in mein Beratungszimmer kam. Ich tauschte meine Joggingschuhe gegen ein Paar Pumps. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass Psychologen gutgekleidet hinter ihrem Schreibtisch sitzen müssen, um ihren Patienten das Gefühl zu geben, als wäre die Welt ein sicherer und ordentlicher Ort. Doch ich hätte mir die Mühe sparen können, denn an meinem Computer klebte eine handgeschriebene Notiz. Sämtliche Termine heute Morgen waren abgesagt, denn in einer Stunde würde ich von einem Polizeibeamten abgeholt.
Einen Augenblick verweigerten meine Beine mir den Dienst. Ich stellte mir meinen Bruder vor, wie er wie beim letzten Mal in einer Zelle saß und jeden wüst beschimpfte, der versuchte, irgendwas aus ihm herauszukriegen, oder ihm auch nur ein Tässchen Tee anbot. Dann aber fiel mir wieder ein, dass mein Name diese Woche auf der Liste diensthabender Psychologen für die Polizeibehörde stand, und mein Herzschlag beruhigte sich wieder.
Mein Posteingang quoll über: eine Einladung des britischen Psychologenverbandes, vor dem ich im April eine Rede halten sollte, acht Überweisungen von
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