Im Totengarten (German Edition)
Mein nächtlicher Schlaf hatte die verschiedenen Puzzleteile offenbar an die korrekten Stellen gerückt. Ich dachte an Marie Benson mit ihrem selbstzufriedenen, breiten Grinsen und an das seltsame Muster, das sie gezeichnet hatte. Jede Seite der Notizen, die ihr Schreiblehrer gestohlen hatte, wies denselben fünfzackigen Stern über demselben Rechteck auf. Das Motiv sah wie ein schlechtgemalter Kompass aus, wie man sie in den Ecken alter Karten im Britischen Museum fand, auf denen von den Kartographen jede noch so kleine Bucht und jeder noch so kleine Hügel eingezeichnet worden war.
Marie hatte ihre eigene Landkarte erstellt. Die Freundlichkeit der Bensons gegenüber Morris’ Mutter hatte also einen Sinn gehabt. Marie hatte sie mit einem ganz bestimmten Ziel zu den langweiligen Bingoabenden geschleppt und nachmittagelang in ihrer Küche in der Keeton Road Tee mit der alten Frau geschlürft, während Ray den Garten umgegraben hatte.
Eilig zerrte ich mein Handy aus der Tasche, und bereits nach wenigen Sekunden hatte ich den DCI am Apparat.
»Alice, wie geht es Ihnen?« An dem Tag klang er fast ausschließlich nach Bermondsey, als hätte er seine schottischen Wurzeln endgültig gekappt.
»Das spielt jetzt keine Rolle«, fuhr ich ihn an. »Ich weiß, wo Ray und Marie die letzten fünf Mädchen begraben haben.«
»Was?«
»Fahren Sie rüber zum Haus von Morris Cley, und fangen Sie schon mal zu graben an.«
Ich hörte das Kratzen eines Kugelschreibers auf Papier, während ich ihm den genauen Ort beschrieb. Ich verstand nicht, warum ich nicht schon viel früher auf diese Idee gekommen war. Marie Bensons Kritzeleien stellten eine Gräberkarte dar, und sie hatte sie ein ums andere Mal gemalt, bevor sie ihr Augenlicht endgültig verlor. Das Rechteck war Cleys Haus, und der fünfzackige Stern zeigte auf die Stellen, an denen die fünf jungen Frauen begraben worden waren. Ray hatte wahrscheinlich Stunden mit dem Ausheben der flachen Gräber zugebracht.
Ehe ich auch nur auf Wiederhören sagen konnte, hatte Burns in dem Verlangen, sofort mit der Arbeit anzufangen, bereits wieder aufgelegt. Noch am selben Nachmittag fing eine Mannschaft mit dem Umgraben des Gartens an. Wahrscheinlich würde es Wochen dauern, die fünf Gräber auszuheben, aber wenigstens bekämen auch die Eltern dieser Mädchen ihre Kinder nun zurück und könnten sie angemessen beerdigen.
Ich sah noch einmal meinen Bruder an. Er schlief tief und fest, denn sein geschundener Körper holte sich auf diese Art die Energie, die er zu seiner Heilung brauchte.
Ich lehnte mich entspannt auf meinem Stuhl zurück und klappte ebenfalls die Augen zu, als mit einem Mal die Tür des Zimmers aufgerissen wurde und die Schwester, die am Tag zuvor versucht hatte, mich an meiner Flucht zu hindern, zornblitzend auf mich heruntersah. Vielleicht hatte sie die letzten vierundzwanzig Stunden damit zugebracht, von Korridor zu Korridor zu sprinten, denn sie guckte derart säuerlich, als lebte sie ausschließlich von Zitronen, Pampelmusen oder irgendwelchem anderen ungesüßten Obst.
»Ha«, bellte sie. »Da sind Sie ja. Und jetzt kommen Sie schön brav mit.«
Sie schleppte mich zurück auf meine Station, und zu erschöpft, um mich zu wehren, ließ ich mich von ihr ins Bett verfrachten, lag danach jedoch den ganzen Nachmittag mit offenen Augen da und gab mir alle Mühe, mein Gehirn so leerzufegen wie den kahlen Winterhimmel, den ich durch mein Fenster sah.
Epilog
An der U-Bahn-Station Borough wirft mir Lola wie gewohnt die Arme zur Begrüßung um den Hals, doch ihr Lächeln dehnt sich in ihrem Gesicht ein bisschen langsamer als früher aus.
»Bist du bereit?«, frage ich sie.
»So bereit, wie’s nur eben geht.«
Sie ist wieder einmal wunderschön und trägt ein langes, grünes Kleid, das ihre Augen, die zwei Töne heller sind, besonders vorteilhaft betont. Es ist April, aber die Sonne ist so warm, dass man denken könnte, es wäre schon beinahe Sommer. Wir gehen über die Straße und verfolgen dann den Weg zurück, den ich im Januar gelaufen bin, vorbei an einer Reihe von Geschäften, deren früher sicher einmal hellen Anstriche infolge der jahrzehntelangen Luftverschmutzung schwarz geworden sind.
»Warte.« Lola bleibt vor einem Blumenladen stehen, und ich verfolge durch das Schaufenster, wie sie sich mit der Verkäuferin darüber unterhält, welche Blumen wohl die besten sind. Dann kommt sie mit zwei riesengroßen Sträußen zarten, weißblühenden Schleierkrauts
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