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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Unvollkommen, Schwankungen unterworfen, subjektiv.
    Unwillkürlich betrachtete Jeanne noch einmal das Display ihres Handys. Nichts. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Schon seit dem Morgen konnte sie den Anruf kaum erwarten. Sie hatte nicht aufgehört, in Phantasien zu schwelgen, immer wieder dieselben Gedanken, dieselben Hoffnungen wiederzukäuen, um schon in der nächsten Sekunde in totaler Verzweiflung zu versinken. Mehrmals stand sie kurz davor, selbst anzurufen. Aber nein. Niemals. Sie musste durchhalten ...
    Halb sechs. Plötzlich wurde sie von Panik ergriffen. Alles war vorbei. Dieses vage Versprechen, gemeinsam zu Abend zu essen, war das letzte Zucken des Leichnams. Er würde nicht zurückkommen. Sie musste es sich eingestehen. »Abtrauern.« »Wieder zu Kräften kommen.« »Sich um sich selbst kümmern.« Dumme Sprüche, mit denen sich vom Pech verfolgte junge Frauen wie sie über ihre Verzweiflung hinwegzutrösten suchten. Die ewig Sitzengelassenen und Zukurzgekommenen. Sie warf ihren Stabilo auf den Schreibtisch und stand auf.
    Ihr Büro befand sich im dritten Stock des Gebäudes, in dem das Landgericht von Nanterre seinen Sitz hatte. Zehn Quadratmeter, vollgestopft mit Akten, die nach Staub und Druckertinte rochen – zehn Quadratmeter, auf denen sich zwei Schreibtische drängten: ihrer und der ihrer Mitarbeiterin Claire. Sie hatte Claire um vier freigegeben, um ungestört vor sich hin zu träumen.
    Sie stellte sich ans Fenster und betrachtete den Park von Nanterre. Sanft geschwungene Hügel, die von kümmerlichem Rasen überzogen waren. Siedlungen in Regenbogentönen rechter Hand und, weiter weg, die »Wolkenkratzer« von Émile Aillaud, dem Architekten, der sagte: »Der Fertigbau ist eine ökonomische Notwendigkeit, aber er darf den Menschen nicht den Eindruck vermitteln, dass sie selbst vorgefertigt sind.« Jeanne gefiel dieses Zitat. Aber sie war sich nicht sicher, ob das Ergebnis den Hoffnungen des Architekten entsprach. Tag für Tag landeten die »Produkte« dieser heruntergekommenen Viertel auf ihrem Schreibtisch: Diebstahl, Vergewaltigung, Körperverletzung, Drogenkriminalität ... Nichts Vorgefertigtes, das war sicher.
    Sie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch. Ihr war übel. Sie fragte sich, wie lange sie wohl noch ohne eine Lexotanil durchhalten würde. Ihr Blick fiel auf einen Block Briefpapier. Berufungsgericht Versailles. Landgericht Nanterre. Dienststelle von Frau Jeanne Korowa. Ermittlungsrichterin beim Landgericht Nanterre. In ihrem Geist hörte sie die Formeln widerhallen, mit denen sie gewöhnlich charakterisiert wurde. Die jüngste Absolventin ihres Jahrgangs. Die »aufstrebende junge Richterin«, der eine große Karriere bevorstehe. Das war die offizielle Version.
    Die private Version war eine Katastrophe. Fünfunddreißig Jahre alt, unverheiratet, kinderlos. Einige Freundinnen, ebenfalls Singles. Eine gemietete Dreizimmerwohnung im 6. Arrondissement. Keine Rücklagen. Kein Vermögen. Keine Perspektive. Das Leben war ihr wie Wasser zwischen den Fingern zerronnen. Und im Restaurant begann man sie »Madame« und nicht mehr »Mademoiselle« zu nennen. Mist.
    Vor zwei Jahren hatte sie den Boden unter den Füßen verloren. Das Leben, das bereits einen bitteren Geschmack hatte, machte ihr schließlich gar keine Freude mehr. Depression. Krankenhausaufenthalt. Damals vegetierte sie nur noch vor sich hin. Leben war für sie gleichbedeutend mit »Leiden«. Seltsamerweise behielt sie ihren Aufenthalt in der Psychiatrie in guter Erinnerung. Drei Wochen Schlaf, mit Medikamenten und Gläschen Babynahrung gefüttert. Eine behutsame Rückkehr in die Realität. Antidepressiva. Psychoanalyse ... Die damaligen Erlebnisse hinterließen ein unsichtbares schwarzes Loch in ihr, das sie im Alltag mit Hilfe von Psychotherapie, Medikamenten und Ausgehen zu umschiffen versuchte. Aber das schwarze Loch war immer sehr nah, und es übte fast eine magnetische Anziehungskraft aus.
    Sie kramte in ihrer Tasche nach ihren Lexotanil und legte eine ganze Tablette unter ihre Zunge. Früher hatte sie nur ein Viertel genommen, aber aufgrund der Macht der Gewohnheit zog sie sich jetzt immer eine ganze rein. Sie ließ sich in ihren Sessel sinken und wartete. Sehr rasch löste sich die Anspannung in ihrer Brust. Ihr Atem ging wieder regelmäßiger. Ihre Gedanken wurden verschwommener ...
    Jemand klopfte an die Tür. Sie schreckte auf. Sie war eingeschlafen.
    Stéphane Reinhardt stand in seinem Jackett

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