Im Zeichen des weißen Delfins (German Edition)
zwar seit dem Tag, an dem sie abgehauen ist.«
Onkel Tom legt eine Hand auf ihren Arm. »Das reicht, Bev.«
Tante Bev ist noch nicht fertig. »Aber das stimmt doch. Und wir sind da, um die Scherben zu kitten. Ich kann so nicht weitermachen, Jim. Wie lang willst du noch auf sie warten? Ein Jahr? Fünf Jahre? Zehn Jahre?«
»Lass es gut sein, Bev.« Onkel Tom versucht, sie vom Thema abzubringen. »Nicht jetzt, nicht heute Abend.«
Tante Bev zieht ihren Arm weg und blickt Dad an. »Kay hätte nie weggehen dürfen. Hier hat sie ihre Verpflichtungen.« Sie pocht mit dem Finger heftig auf die Tischplatte, um ihren Standpunkt zu unterstreichen.
Dad setzt sich und legt den Kopf in die Hände. »Das haben wir doch schon diskutiert, Bev. Sie hatte ihre Gründe.«
»Für ein ausgeflipptes Rettet-die-Delfine-Projekt um die halbe Welt zu reisen?«, blafft sie. »Verlässt man dafür Mann und Kind?«
Ich funkle Tante Bev an. »Mum ist eine Meeresbiologin!«, rufe ich. »Sie verhindert, dass wild lebende Delfine gefangen werden. Das weißt du ganz genau.«
Aber Tante Bev beachtet mich gar nicht und setzt sich neben Dad. »Du musst den Tatsachen ins Auge sehen, Jim. Wenn dir das nicht einmal deine eigene Schwester sagen kann, wer denn dann? Du musst dich damit abfinden, dass Kay nicht zurückkommt.«
Dad wirft ihr einen kurzen Blick zu. »Das wissen wir nicht, Bev, das wissen wir einfach nicht.«
Tante Bev wirft die Arme in die Luft. »Genau. Das war ja immer das Problem. Wir wissen nichts. Ein Jahr ist vergangen,und das Einzige, was wir tatsächlich wissen, ist, dass sie auf den Salomon-Inseln landete, in ihrem Hotel eincheckte und seither verschollen ist.«
Dad schüttelt den Kopf. »Ich hätte damals nach ihr suchen sollen.«
»Du konntest dir nicht mal die Busfahrkarte zum Flughafen leisten, vom Flugticket ganz zu schweigen«, schnaubt Tante Bev. »Die Behörden dort konnten sie nicht finden. Nicht einmal der Privatdetektiv hat sie aufgespürt, den die Angehörigen der anderen Verschollenen angeheuert haben. Die Beweisaufnahme ist abgeschlossen.«
Dad runzelt die Stirn. »Menschen verschwinden nicht einfach so.«
Tante Bev lehnt sich zurück und schaut Dad an. »Du kannst nicht ewig deinen Kopf in den Sand stecken, schon allein Kara zuliebe nicht. Du musstest ja auch Kays Schulden zahlen. Tausende für die Reise und für all den tollen Tauchkram, den sie gekauft hat. Aber ich wette, das hast du Kara gar nicht erzählt, stimmt’s, Jim?«
Dad steht auf. Sein Stuhl knallt gegen die Wand. »Ich geh raus.«
Onkel Tom tritt zur Seite, um ihn vorbeizulassen.
»Genau«, ruft Tante Bev hinter Dad her, »geh nur weg, so wie du es immer machst.«
Auch ich stehe auf. »Mum würde uns nicht verlassen. Ich weiß, dass sie wiederkommt. Sie hat den Delfin geschickt.«
Dad bleibt stehen, die Hand an der Tür.
Tante Bev starrt wütend auf seinen Rücken. »Du hast kein Haus, Jim Wood, von einem Job gar nicht zu reden, und bald hast du auch kein Boot mehr.« Sie holt tief Luft und wendet sich an mich. »In diesem Haus wird nicht mehr über Delfine gesprochen, Kara. Hast du das verstanden?«
Sie verschränkt die Arme.
Ich lasse ihre Worte an mir abprallen. Der weiße Delfin ist ein Zeichen, dass Mum irgendwo da draußen lebt, und ich werde auf sie warten, so lange es auch immer dauern mag. Ich möchte, dass auch Dad das weiß. Mum wird zurückkommen. Wir werden auf der Moana leben, wir drei, und unter dem Segeltuch schlafen, das wir über den Mastbaum gespannt haben. Wir werden eines Tages zusammen davonsegeln, wie Mum es immer gesagt hat.
Mum, Dad und ich.
Das Telefonläuten zerreißt die Stille.
Onkel Tom hebt ab und reicht den Apparat an Dad weiter. »Ist für dich, Jim.«
Dad nimmt das Telefon und ich höre ihn, wie er in der Diele auf- und abgeht. Seine Stimme ist sanft und ruhig. Er geht in die Küche zurück, stellt das Telefon ab. Er öffnet die Hintertür, lehnt sich gegen den Türrahmen und lässt die kühle Nachtluft hereinwehen.
Tante Bev hält den Kopf schief. »Und … wer war das?«
Dad lässt die Schultern hängen. »Ein Kaufangebot für die Moana «, sagt er. »Ein Mann will sie sich dieses Wochenende ansehen.«
Kapitel 6
Ich schneide Daisys Toast in Dreiecke und schiebe ihr den Teller vor die Nase.
Sie zieht die Kruste ab und schaut mich an. »Frühstückst du nichts?«
»Keinen Hunger«, sage ich.
Tante Bev schaut mich über ihre Zeitschrift hinweg an. »Die Schulleiterin will mit dir sprechen,
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