Im Zeichen des weißen Delfins (German Edition)
mit meinen Fingern Wellenmuster in den Sand. Mum hat mir einmal ein Foto gezeigt, das sie von einem Kuckucksfisch gemacht hat. Das war ein Fisch mit hellblauer und orangefarbener Zeichnung, der gerade durch ein verrostetes Bullauge schwimmt. Und dann hat sie mir ein anderes Foto gezeigt, von rosaroten und weißen Federsternen, die entlang der alten Geschützrohre leben. Das ganze Riff, dassich vom Gull Rock zum Strand erstreckt, ist ein einziger Unterwasser-Safaripark, eine verborgene Wildnis.
»Kara!«
Ich schaue hoch. Ich habe nicht gehört, dass Mrs Carter ins Zimmer gekommen ist. Sie lächelt kurz Mrs Baker zu und zieht einen Stuhl neben mich. Sie schiebt die Bibel und ein paar der herausgerissenen Seiten auf den Tisch.
»Ich glaube, Kara und ich müssen uns unterhalten«, sagt sie.
Mrs Bakers Augen huschen zwischen uns hin und her. Sie sammelt ihre Papiere auf und schultert ihre Umhängetasche. »Nächsten Freitag fällt die Stunde aus, Kara, weil das der letzte Schultag vor den Ferien ist. Also, wenn ich dich vorher nicht mehr sehen sollte: Ich wünsch dir einen schönen Sommer.«
Sie geht zum Parkplatz auf der Rückseite der Schule.
Ein Wolkenschatten gleitet über den Schulhof und verdunkelt das Zimmer.
Mrs Carter neigt sich nach vorn. »Ich habe gehört, dass du beim Schreiben große Fortschritte gemacht hast«, sagt sie. Sie lächelt mit schmalen Lippen.
Ich starre in den Kasten vor mir und ziehe meine Finger durch den groben Sand. Wir wissen beide, dass wir nicht hier sind, um über meine Lese-Rechtschreib-Schwäche zu reden.
»Ich weiß, dass dieses Jahr für dich hart gewesen ist, Kara.«
Ich schaue hoch. Mrs Carter beobachtet mich. Sie nimmt die Brille ab und klappt sie auf dem Tisch ordentlich zusammen.
»Es ist völlig in Ordnung, wenn du wütend bist.« Ihre Stimme klingt weich und beherrscht. »Ich verstehe das.«
Ich male einen Kreis in den Sand, rundherum und rundherum und rundherum. Ich will, dass das bald vorbei ist.
»Aber du kannst deine Wut nicht an anderen Kindern und an Schuleigentum auslassen.«
Ich schweige.
Mrs Carter kommt näher. »Du hast Jake Evans die Nase gebrochen«, sagt sie. »Wie geht’s dir jetzt damit?«
Ich male zwei Pünktchen und einen lächelnden Mund in den Kreis. »Sein Dad wird das Riff zerstören«, sage ich. »Wenn das Fangverbot aufgehoben ist, zieht er seine Schleppnetze drüber und zerfetzt es.«
»Für Gewalt gibt es keine Entschuldigung, Kara.«
Ich starre auf den Sand. Mrs Carter lehnt sich zurück und verschränkt die Arme. Ich glaube, sie wünscht sich genauso sehr wie ich, dass das vorbeigeht.
»Aber was ich wirklich wissen möchte, Kara: Warum hast du die Bibel zerrissen?«
Ich will ihr erklären, dass ich das ihretwegen gemacht habe. Weil sie uns erzählt hat, Gott würde auf all unsere Gebete antworten. Also habe ich nun ein ganzes Jahr dafür gebetet, etwas Neues von Mum zu hören, und habe nichts, aber auch gar nichts erfahren. Das sage ich Mrs Carter aber nicht. Stattdessen zucke ich mit den Schultern und drücke den Sand in meinen Händen zusammen.
Die Schulglocke läutet zum Ende der zweiten Unterrichtsstunde. In der nächsten Stunde haben wir Mathe. Ich blicke kurz zu Mrs Carter auf.
»Wie können wir die Sache beilegen, Kara?«, fragt sie. »Sag mir das.«
Ich fahre mit dem Finger über die harte Kante der Bibel. Was beilegen? Dass Mum nicht zurückkommt? Dass das Riff zerstört wird? Ich weiß, dass sie das überhaupt nicht meint. Ich hebe die Ecke einer hauchdünnen, ausgerissenen Seite hoch. »Ich könnte helfen, die Seiten wieder einzukleben«, antworte ich.
Mrs Carter sitzt da und nickt. »Das wäre ein guter Anfang«, sagt sie. »Du kannst mir am Montag nach der Schule helfen, die Bibel zu reparieren. Ich gebe dir das Wochenende Zeit, gründlich über die Dinge nachzudenken. Aber du weißt, dass ich mit deinem Vater über all das sprechen muss.«
Ich lasse den Sand durch die Finger rieseln und beobachte, wie sich im Kasten ein kleiner Berg bildet.
»Und außerdem musst du dich bei Jake entschuldigen«, sagt sie.
Ich starre meine Hände an, die von winzigen, kristallklaren Körnchen übersät sind.
Mrs Carter steht auf und klemmt die Bibel unter den Arm. »Du kannst jetzt gehen.«
Ich stehe auf und bewege mich auf die Tür zu, aber ich spüre, wie sich ihr Blick in meinen Rücken bohrt. Vielleicht kann sie meine Gedanken lesen. Ich werde ihr helfen, die Seiten in ihre Bibel zu kleben.
Aber ich werde mich nicht
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