Imagon
Tore offen vorgefunden und sich mit seinesgleichen triumphierend in die Freiheit gestürzt.
Ich lief hinaus auf den Eissee und folgte der Spur bis zu dem klaffenden Schlund, der einst das Schluckloch gewesen war. Nun öffnete sich inmitten tiefer Spalten und riesiger, umhergeschleuderter Eistrümmer ein mehr als dreißig Meter großer Krater. Lange stand ich an seinem Rand und blickte hinab in die Dunkelheit. Ich lauschte nach Geräuschen, die aus dem Abgrund heraufdringen mochten, doch kein Laut war zu vernehmen.
Nach all den Äonen waren sie frei und hatten sich aufgemacht, die Welt für sich zurückzuerobern. Sedmeluqs Brut musste unter dem Eis durch die Gletscherhöhlen bis zur Küste gekrochen und ungesehen in den Tiefen des Ozeans verschwunden sein. Ungesehen – aber dennoch nicht völlig unbemerkt, wie ich bald erfahren sollte.
Ich sah hinauf in den Vollmond. Wie viele Wochen waren vergangen, seit die Spuren der Zerstörung beseitigt worden waren? Mochten mittlerweile sogar Jahre verstrichen sein? Gab es überhaupt noch Menschen?
Es vergingen Stunden, ehe der Morgen graute, doch der nachfolgende Tag währte nur kurz und ließ ahnen, dass früher oder später die Polarnacht anbrechen und sich als monatelange Dunkelheit über das Land legen würde. Ich nutzte die Helligkeit, um mir einen Weg hinauf zur Breva-Station zu erkämpfen.
Dabei überwand ich jenen Treppenabschnitt, den die Explosion des Helikopters weggerissen hatte, durch einen halsbrecherischen Aufstieg über den Kraterhang. Dicke Wolken waren mit dem ersten Tageslicht aus dem Südwesten herangezogen, und ehe ich einen Fuß auf die halbwegs intakte, von tückischen Schneewehen bedeckte Treppe setzen konnte, begann ein Blizzard zu wüten, der mich von den Stufen zu zerren und alles unter sich zu ersticken drohte. Jene Art von Schneesturm, die Talalinqua piteraq genannt hatte.
Auf dem Plateau angekommen, fand ich nichts außer Trümmern und Zerstörung. Die Wohncontainer glichen explodierten Gastanks, halb geschmolzen, halb geborsten und bar jeglichen Lebens. Die betroffenen Parteien hatten nach den schrecklichen Ereignissen lediglich das militärische und wissenschaftliche Equipment und die Wracks der Helikopter geborgen. Von Mertens’ Leuten, der AMES-Truppe, den Inuit und selbst von den verbrannten Schlittenhunden fehlte jede Spur. Womöglich war einigen von ihnen die Flucht gelungen, doch wahrscheinlich waren sie allesamt tot.
Der Shoggothe hatte nicht nur die Station verwüstet, sondern jegliches Leben unter sich begraben. Er hatte alles Organische verschlungen und absorbiert wie ein gigantischer Phagozyt. Es gab keine Leichen, kein Blut und keine Knochen.
Ich kleidete mich mit den wenigen zurückgebliebenen Kleidungsstücken ein, die ich in den Trümmern fand, und marschierte nach Südosten, bis ich den von Packeis bedeckten Fjord erreichte. Einige Male sah ich in der Ferne Hundeschlitten vorbeiziehen, und Kondensstreifen am Himmel ließen mich wissen, dass die menschliche Zivilisation noch nicht untergegangen war. Im Schutz der Dunkelheit schlug ich mich entlang der Fjordküste nach Asqenaesset durch, wo ich im Verborgenen darauf wartete, dass die Libelle über dem Dorf auftauchte. Es landeten zwar etliche Helikopter, doch auf Hansen wartete ich vergeblich. Dafür erfuhr ich das Datum: Wir schrieben den 22. September!
Nachdem ich über eine Woche lang in der Siedlung herumgelungert und unter umgekippten Fischerbooten oder in verlassenen Hafengebäuden geschlafen hatte, gab ich mein Versteckspiel entnervt auf. Mit einem gestohlenen Skidoo, den ich nachts über einen Kilometer weit aus dem Dorf geschoben hatte, ehe ich den Motor zu starten wagte, und zwei Ersatzkanistern voll Treibstoff machte ich mich auf den beschwerlichen Weg nach Mestersvig. Für die Fahrt benutzte ich einen entlang der nördlichen Fjordküste verlaufenden Hundeschlitten-Trail, ohne recht zu wissen, ob die von mir gewählte Route mich tatsächlich ans Ziel führen würde. Letztendlich tat sie es, doch der Treibstoff reichte nur für zwei Drittel des Weges. Als ich zu Fuß in Mestersvig ankam, war eine weitere Woche vergangen. Der Tag, an dem ich schließlich an Hansens Haustür klopfte und dafür sorgte, dass dem Piloten vor Schreck fast das Herz stehen blieb, war der 9. Oktober …
Nachdem Hansen den Schock über meine Rückkehr von den Toten überwunden und ich ihm im Beisein von Anuka und Ruono erzählt hatte, was sich am Mount Breva ereignete, versteckte er
Weitere Kostenlose Bücher