Imagon
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Ich hasse den Winter.
Schon die kleinste Schneewehe, über die ich gezwungen bin hinwegzusteigen, versetzt mich in Unmut, ganz zu schweigen von dem Gedanken, den Zugang meines Hauses bis zur nahen Straße vom nächtlich gefallenen Neuschnee frei zu schippen – feinem Pulverschnee, den der Sturm über den Kattegat nach Nyk0bing hereinträgt und der beim Verlassen der Wohnung wie Myriaden eisiger, feiner Nadeln in Gesicht und Nacken schlägt.
Ich hasse Kinder, die der Widerwärtigkeit des Winters zum Trotz riesige, fette Schneemänner bauen und Vergnügen an ausgelassenen Schneeballschlachten finden. Ich hasse Schneebälle, die absichtlich oder unabsichtlich gegen meine Fensterscheiben schlagen, und ich hasse die allmorgendlich zugefrorenen Fensterscheiben meines Wagens.
Eine dicke Schneeflocke, die mir der auflebende Wind ins Gesicht trieb, ließ mich zusammenzucken. Ich wischte sie fort, als sei ein widerliches Insekt auf meiner Wange gelandet, und betrachtete meinen Handrücken. Er war feucht, winzige Eiskristalle schmolzen auf der warmen Haut. Ungläubig blickte ich hinauf in die tief hängenden Wolken. Wir schrieben den 11. Juni, ein für diesen Breitengrad recht ungewöhnliches Datum für Schnee. Der Himmel hatte sich im Laufe der letzten halben Stunde verdunkelt, und eine kalte Brise wehte vom Meer her über die Küste. Im Osten konnte ich Zelenogradsk und die kurische Nehrung im Dunst erkennen, etwa fünf Kilometer westlich von mir lag der Jachthafen, von dem aus ich losmarschiert war, und in weiter Ferne das Kap Taran.
Ich hatte mir einen Wagen gemietet und war an die Küste gefahren, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen. Nur raus aus der Stadt, weg von dem Palmölgeruch und dem Gestank des Industriebahnhofs, in dessen Nähe mein Hotel lag. Fort von den Menschen – fort von den Toten … Ich wollte allein sein, die Brandung hören, den Wind spüren und nachdenken. Den Wagen hatte ich zwei Kilometer von der Küste entfernt am Straßenrand abgestellt und war stundenlang ziellos durch die Dünen und über den Strand gewandert. Vielleicht stand der Wagen noch an seinem Platz, wenn ich zurückkam, vielleicht auch nicht. Es war mir egal. Während der letzten Stunden war ich keiner Menschenseele begegnet, lediglich zwei verwilderte Hunde waren mir entgegengestreunt. Noch immer glaubte ich, den Duft von Weihrauch zu riechen, hörte die murmelnde Stimme des Popen, dessen Worte ich nicht verstanden hatte. Sie hallte in meinen Gedanken wider, salbaderte in einer harten, monotonen Fantasiesprache verworrene Verse aus dem Buch der Könige. Fünfzig Quadratzentimeter geweihte Erde für ein schlichtes Holzkreuz und eine Urne. Eine trostlose Bestattung auf einem Areal unter Birken und Weiden, wo die Toten zumindest noch einen Namen hatten – und doch so fern von bleibenden Erinnerungen und einem Mindestmaß an Würde.
Ich war die Küste entlangmarschiert, grübelnd, verwirrt und innerlich leer, in meiner Jackentasche Naunas Brief, den ich vielleicht nie hätte lesen sollen, und in meiner Hand ihren silbernen Talisman. Ich lief über nassen Sand, um die Friedhofserde von meinen Schuhen abzutreten. Die Schuhe glänzten feucht, ihr Leder hatte sich voll Wasser gesogen, und kein Krümel Erde haftete mehr an ihnen. Ich lief trotzdem weiter. Ich hasse Friedhöfe.
Ein Priel hatte mir schließlich den Weitermarsch verwehrt. Er war kaum drei Meter breit, und mit genügend Anlauf hätte ich über den vielleicht knietiefen Wasserlauf springen können. Ich fühlte mich zu matt dafür. Landeinwärts erhoben sich die riesigen Wanderdünen, die ich spätestens auf meinem Rückweg wieder durchqueren musste. Also war ich dem Priel bis zu seiner Mündung gefolgt. Es herrschte Ebbe, und das Meer leckte in breiten Wellenzungen meterweit über den sanft abfallenden Strand.
Pausenlos musste ich an Nauna denken, an die Zeilen, die sie mit zittriger, lebensschwacher Hand geschrieben hatte und die doch so mächtig waren. Ich wusste, dass sie den Brief in tiefem Vertrauen geschrieben hatte. Vielleicht sogar in einer besonderen Art von Liebe. Liebe zu etwas, das nie mehr sein würde, das nie hatte sein dürfen. Zu diesem Zeitpunkt glaubte ich noch, ich sei der Einzige, der es wusste.
Wo, um Himmels Willen?, schrie ich in Gedanken. Wo ist das geschehen?
Hätte ich den Brief doch nur ungeöffnet gelassen und Nauna so in Erinnerung behalten, wie es meine Denkweise erlaubte.
Doch jetzt … Lag einem Menschen, der ein solches Los
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