In aller Unschuld Thriller
war von den endlosen Streitereien mit David wegen ihrer Überstunden genervt gewesen, wegen ihrer fehlenden Unterstützung.
David schaffte es, alles so lange hin und her zu drehen, bis er den Punkt fand, an dem es um ihn ging. Seine Arbeit litt angeblich unter ihrer Karriere. Dabei übersah er natürlich geflissentlich, dass sie ihn manchmal über Wochen nicht zu Gesicht bekam, wenn er an einem Projekt arbeitete, und es kam nur äußerst selten vor, dass er sie über dessen Fortgang auf dem Laufenden hielt. Sie dagegen konnte sich darauf verlassen, dass er nie für sie da war, wenn sie, wie in diesem letzten Fall, seine Unterstützung brauchte.
Und da war Chris Logan gewesen, der wusste, unter welchem Druck sie wegen des Prozesses stand, weil er dasselbe erlebte, stark und leidenschaftlich …
»Du verlässt jetzt augenblicklich dieses Büro«, sagte sie mit fester und angespannter Stimme. »Oder ich rufe einen Deputy. Dann kannst du sehen, wie du mit den Folgen fertig wirst.«
Sie ging zur Tür, riss sie auf und starrte Logan ebenso zornig an wie er sie.
Er senkte den Blick. »Tut mir Leid, Carey. Das hätte ich nicht sagen sollen.«
»Nein, das hättest du nicht. Und du wirst es auch nie wieder tun!«
»Nein. Entschuldige«, sagte er betreten. »Es liegt an diesem Fall. Er geht mir einfach zu nahe«, fügte er hinzu, schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
»Spar dir deine Entschuldigungen, denn dafür gibt es keine«, fuhr Carey ihn an. »Du hast dich im Ton vergriffen, und du versuchst, meine Autorität zu untergraben. Das lasse ich nicht zu. Wenn du noch einmal etwas in der Richtung versuchst, werde ich dafür sorgen, dass dir der Fall entzogen wird. Denk einmal darüber nach, welchen Einfluss das auf dein Bild in der Öffentlichkeit hätte. Und jetzt geh.«
Er sah sie nicht an. Sie wollte glauben, dass er sich für sein Verhalten schämte, aber das war mit ziemlicher Sicherheit nicht der Fall. Er orientierte sich neu, schlug einen anderen, klügeren Weg ein. Logans Leidenschaft für seine Arbeit konnte man regelmäßig im Gerichtssaal miterleben. Selbst Verteidiger von einigem Kaliber hielten dem oft nicht stand. Aber er hatte nie gelernt, diese Leidenschaft zu zügeln, wenn es nötig war, und so war seine größte Stärke gleichzeitig auch seine größte Schwäche.
»Du hast die Fotos vom Tatort gesehen«, sagte er leise. »Du weißt, was dieser Frau und den beiden Kindern angetan wurde. Sie gehörten nicht einmal richtig dorthin, sie waren Pflegekinder. Es war reines Pech, dass sie gerade in dieser Familie gelandet waren. Ich sehe mir jeden Tag diese Fotos an. Bekomme sie nicht aus dem Kopf. Nachts träume ich von ihnen. Noch nie habe ich einen Fall vertreten, der mich so sehr berührt hat.«
»Dann solltest du dir die Bilder nicht mehr ansehen«, sagte Carey und verschwieg wohlweislich, was sie selbst bei deren Anblick empfunden hatte. »Es hat keinen Sinn. Du kannst keinen Prozess auf der Grundlage deiner persönlichen Betroffenheit führen, Chris. Du verlierst die Dinge aus dem Blick, du machst Fehler. Wie diesen hier. Und jetzt geh. Sofort.«
Er seufzte und nickte, dann erwiderte er ihren Blick mit echt empfundener Reue in den Augen. »Es tut mir leid.«
Carey sagte nichts. Er wandte sich um und ging mit den Händen in den Hosentaschen und hängenden Schultern zur Tür. Wenn das ein Film gewesen wäre, wäre sie hinter ihm hergelaufen, hätte ihm verziehen, und dann wären sie sich voll Leidenschaft in die Arme gefallen. Aber das war kein Film, sondern die Wirklichkeit. Sie hatte ihre Arbeit, sie hatte einen Ehemann, sie hatte ein Kind. Sie konnte Chris Logan nicht haben. Doch sie wusste auch, dass es besser so war.
Was sie wirklich wollte, war ein starker Mann, der sie beschützte und sich um sie sorgte. Aber den hatte sie nicht. Es mochte traurig sein, aber sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass sie ihre Kämpfe allein ausfechten und allein mit ihrer Unsicherheit fertig werden musste.
Carey zog ihren Mantel an, schob sich den Riemen ihrer Handtasche über die Schulter und nahm die große alte Lederaktentasche, die ihrem Vater gehört hatte, als er Richter an ebendiesem Gericht gewesen war. Sie wünschte, sie hätte ihn um Rat fragen können, wie sie es die meiste Zeit ihres Lebens gemacht hatte. Aber er war vor einigen Jahren an Alzheimer erkrankt und erkannte sie nicht einmal mehr. Im Grunde hatte sie nur noch ein paar einzelne Dinge von ihm wie seinen
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