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In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche

Titel: In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ales Pickar
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die aus dem Wind kommen. Und nicht ein Leben lang an Begründungen drechseln, weshalb wir an unserer Erfolglosigkeit keine Schuld tragen. Freiheit ist die vollständige Abwesenheit von Sicherheit. Jeder Kompromiss zwischen Freiheit und Sicherheit läuft auf Lügen alter Männer in Anzügen hinaus, die aus Hinterzimmern die Welt beherrschen möchten.

1.10 Demiurg
     
    Ich glaube, wir sind Puppen an Fäden. Doch wenn wir hochblicken, in die Dunkelheit über der Bühne, auf der Suche nach dem Puppenmeister, der die Fäden zieht, entdecken wir, dass die Fäden nur auf einer anderen Bühne enden, auf der andere Marionetten stehen. Wir alle sind Marionetten und Puppenmeister zugleich, miteinander verwoben auf Milliarden von Bühnen. Wann immer ich an meinem Arm zerre und ziehe, setze ich irgendwo eine andere Puppe in Bewegung. Und auch meine eigenen Bewegungen sind nur die Ergebnisse von Menschen, die an meinen Fäden ziehen. Den meisten erscheint es wie ein sinnloser, verhedderter Kabelsalat. Die Fäden ziehen sich durch unbekannte Parallelwelten und durch die Windungen der Raumzeit. Und alles, was geschieht, geschieht mindestens zweimal. Alles sehnt sich nach Ausgleich.
    Es ist bequem zu denken, dass ein Mensch, der mich in der Metro anrempelt, ein Wassertropfen, der von oben meinen Kopf trifft oder eine Frau, die mich aus einem vorbeifahrenden Auto geheimnisvoll anlächelt, zufällige, unbedeutende Begegnungen darstellen, denen kein Sinn zugrundeliegt. Doch ab wann beginnen die Zufälle Sinn zu ergeben? Wenn die Bremsen eines Autos quietschen und Glas bricht? Wenn man das falsche Flugzeug betritt? Wenn sich dumpf die Tore eines Gefängnisses hinter mir schließen? Ist die Welt unüberschaubar oder sinnlos?
    Ich sage auch nicht, es gäbe keinen Gott, bloß weil die Fäden nur zu anderen Marionetten führen. Doch ich weiß nun, Gott ist kein Puppenmeister. Er zieht nicht die Fäden. Er stellt nur die Bühne zur Verfügung. Das Desaster überlässt er uns.
    War es Zufall, dass ich dort stand, wo ich stand? War es Zufall, dass ich in das Haus der Kraniche einzog, obwohl es mir nicht besonders gefiel und für meine Bedürfnisse ungeeignet war? War es denn Zufall, dass ich früher oder später den seltsamsten Charakter des Hauses — den charismatischen Manzio — kennenlernte und dieser mich schließlich auf das dunkle Geheimnis aufmerksam machte? Zufall oder Anfälligkeit?
    Ich sollte nicht mehr in den Untergrund gehen.
    Der Zug nahm immer mehr Geschwindigkeit an und bewegte sich in den Norden, hinaus aus der Stadt. Durch Obermenzing, den Allacher Forst, vorbei an Karlsfeld, mitten durch Dachau. Dann gaben die Maschinen richtig Gas, und mein müder Kopf begann langsam zur Seite zu rutschen. Der Waggon vibrierte sanft durch meine Schläfe. Was ist mit Manzio passiert? Wo war Manzio? Konnte es sein, dass Manzio tot war? Dieses Schließfach war sicherlich für ihn bestimmt.
    Plötzlich erinnerte ich mich an Korvinian. Ich hatte noch immer die Kopfhörer in den Ohren.
    »Was ist mit Manzio, Korvinian?«
    »Er ist seit vergangener Nacht tot« , lautete die Antwort. In seiner ErgoTrixx- Stimme klang nicht die geringste Trauer oder Anteilnahme.
    »Er nannte sich Aramis. Wie lange war er Mitglied in deiner Organisation?«
    »Wenn die Zeit reif ist, wirst du alles erfahren.«
    Ich schwieg und machte mir meine eigenen Gedanken.
    »Ich möchte, dass du jetzt den Paß herausnimmst« , wechselte Korvinian plötzlich das Thema.
    Ich tat wie geheißen. Es war ein britischer Reisepass, in weinrotem Umschlag, auf dem in goldenen Letter stand: U NITED K INGDOM OF G REAT B RITAIN AND N ORTHERN I RELAND .
    Ich blätterte zur letzten Seite. Ich hieß angeblich Jeffrey Underhill und kam 1972 zur Welt. Der Mann auf dem Foto sah mir nicht einmal in einem komatösen Absinthrausch ähnlich. Er war ein unrasierter Typ, der einer Grunge-Band anzugehören schien und sich für dieses Passbild provokant in einen Anzug hineingezwängt hatte.
    »Fahre mit der Fläche deines Daumens kräftig über das Bild.«
    Ich war mir nicht sicher, ob ich verstand, was er da sagte.
    »Was soll ich tun?« fragte ich.
    »Fahre mit der Fläche deines Daumens kräftig über das Bild. Der Reisepass besitzt eine Photographie, die in Wirklichkeit eine mimetische Konfiguration unterhalb der Beschichtung ist. Die Miniatur eines interaktiven Flachbildschirms.«
    Ich tat es und musste mich zurückhalten, um nicht aufzuschreien. Das Bild hatte sich wie ein Kaleidoskop verändert.

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