Melina und die vergessene Magie
Eine fremde Welt
Alles war fremd an diesem Morgen. Das Aufwachen in dem neuen Zimmer, das noch nach Farbe roch, die Fahrt mit dem Auto durch Straßen, deren Namen sie nicht kannte. Und schließlich hielt der Wagen vor einem abweisenden Klotz aus Beton und Glas, in den Massen von gesichtslosen Schülern hineinströmten.
»Soll ich mit reingehen?«, fragte Mam, während sie versuchte, in den Augen ihrer Tochter zu lesen, wie sie sich fühlte. Melina schüttelte den Kopf und stieg hastig aus. Ihre Mutter sollte nicht sehen, dass sie Angst hatte.
»Bis heute Mittag!«, rief sie und winkte betont lässig durch die Autotür, bevor sie sie zuwarf. Der Wagen setzte zurück und fädelte in den Verkehr ein. Nun stand sie allein in der fremden Welt.
Herr Geller erwartete Melina bereits vor dem Klassenzimmer. Sie hatte es ohne Hilfe gefunden, da er es ihr und ihren Eltern beim Vorgespräch gezeigt hatte.
»Schön, dass du da bist. Dann wollen wir mal!«, sagte ihr neuer Lehrer und schob sie durch die Tür.
Melina hatte das Gefühl, dass ihr die Luft wegblieb, als sie vor die zwanzig Schüler trat. Die bisherige Unruhe schlug um in Totenstille. Alle starrten sie an.
»Das ist Melina Bernhard«, sagte Herr Geller und legte die Hände auf ihre Schultern. »Sie ist erst vor ein paar Tagen hierhergezogen und geht ab heute in eure Klasse. Seid nett zu ihr und helft ihr ein bisschen, solange alles noch neu für sie ist.«
Er wies auf einen freien Platz in der dritten Reihe. »Vielleicht setzt du dich da hin?«
Immerhin, dort hinten war sie wenigstens unauffällig, dachte Melina, während sie zu ihrem neuen Platz ging.
»Sie ist dreizehn und kommt aus einem Vorort von Frankfurt. Vielleicht möchtest du selbst noch etwas über dich erzählen?«
Melina spürte, wie ihr Mund trocken wurde, als sich alle zu ihr umwandten. So musste sich ein Tier im Zoo fühlen! Sie versuchte, sich selbst mit den Augen der anderen zu sehen: klein, zierlich, eher unsportlich und unscheinbar; lange braune Locken, im Gesicht eine spitze Nase – und seit heute Morgen einen Pickel am Kinn, den bestimmt alle eklig fanden.
Was sollte sie denen erzählen? Sie zuckte mit den Schultern und schüttelte mit einem schüchternen Lächeln den Kopf. Hoffentlich ging es gleich mit dem Unterricht los, damit sie mit der Wand verschmelzen konnte. Oder im Boden versinken.
»Na, damit du den anderen nicht so fremd bist, würde ich gern noch mehr sagen«, fuhr Herr Geller fort.
Sie war den anderen fremd? Interessante Perspektive!
»Melinas Lieblingsfächer sind Deutsch und Englisch. Sie mag Tiere. In Frankfurt hatte sie mit einer Freundin zusammen ein Pferd, das sie wegen des Umzugs leider zurücklassen musste. Und sie hat ein Meerschweinchen namens Kaspar …«
»Capper«, korrigierte Melina leise.
Eine weibliche Stimme tuschelte: »Und sie heißt eigentlich Seppel.«
Aber das hörte sie kaum. Stattdessen kämpfte sie gegen die Tränen. Musste der Typ denn auch Samara erwähnen? Ihre Fuchsstute war Punkt eins auf der Liste der Gründe, warum sie niemals hierherziehen wollte.
»… und in ihrer Freizeit liest sie gern. Noch andere Hobbys?«, ermutigte er sie.
»Nein, das war’s eigentlich«, murmelte Melina, während die gleiche Stimme wie eben hinzufügte: »Langweilerin!«
Melina konnte nicht erkennen, wer es war, aber die anderen Schüler begannen zu kichern, während Herr Geller nichts zu hören schien. Sie hoffte, dass die Bloßstellung endlich ein Ende fand. Was wollte er noch tun? Ihre Babyfotos herumzeigen?
»Nicht so bescheiden! Da haben mir deine Eltern im Vorgespräch doch etwas anderes erzählt«, lächelte er. »Melina hat ein sehr schönes Hobby, sie schreibt Geschichten. Vor zwei Monaten hat sie sogar bei einem Kurzgeschichtenwettbewerb in Frankfurt den ersten Preis gewonnen.«
»Was war denn der erste Preis?«, fragte das Mädchen, das direkt neben Melina saß.
»Ein Bücherpaket«, erwiderte Melina.
Das Mädchen lächelte freundlich, aber von hinten ertönte ein Stöhnen. Herr Geller hob die Hände und bat um Ruhe.
»Demnächst nehmen wir im Deutschunterricht das Thema Kurzgeschichte durch, dann könntest du uns den Text vielleicht mal vorlesen – wenn du magst.«
»Herr, steh uns bei«, flüsterte die inzwischen nervende Stimme von hinten, während der Klassenlehrer Melina anstrahlte. Sie betrachtete die Tischplatte und wollte niemanden ansehen. Merkte er nicht, dass er soeben ihr Schicksal besiegelt hatte? Vor ihrer letzten Klasse
Weitere Kostenlose Bücher