In den W?ldern tiefer Nacht
Herausforderung wieder vergessen hat. Obwohl es mir mißfällt, nicht zu ihr gehen zu können, verzichte ich lieber auf meinen Besuch, als ihren Tod zu riskieren, weil ich zu stolz bin. Um Toras willen erlaube ich mir, Aubrey zu fürchten.
Nachdem ich gejagt habe, verwandle ich mich in einen Falken und kehre nach Concord zurück, aber meine Gedanken sind immer noch unruhig. Ich falle ins Bett, aber ich träume nicht – ich erinnere mich einfach nur.
6
1701
Alexander ging mir an dem Tag nach Mr. Karews Besuch aus dem Weg. Wir besuchten zwar mit der ganzen Familie die Messe, aber für den Rest des Tages blieb Alexander größtenteils in seinem Zimmer. Und immer, wenn er es für kurze Zeit verließ, sah er derart benommen aus, als würde er etwas sehen, das ich nicht sehen konnte, oder etwas hören, das ich nicht hören konnte. Vielleicht war es auch tatsächlich so. Ich weiß es bis heute nicht, und ich werde es wohl nie erfahren.
Als er mich an diesem Abend aufsuchte, war der benommene Gesichtsausdruck einer bedrohlichen Entschlossenheit gewichen.
»Rachel?«
»Ja?«
»Ich muß unbedingt mit dir reden. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, ohne daß du denkst...« Er verstummte, und ich wartete, bis er weiterredete.
»In dieser Welt gibt es Kreaturen, die keine Menschen sind«, fuhr Alexander fort, seine Stimme wurde fester und bestimmter. »Aber sie sind auch nicht das, was die Hexenjäger behaupten. Die Hexen...« Er schwieg wieder einen Moment, und ich wartete darauf, daß er sich entschied, wie er das, was er zu sagen hatte, am besten formulierte. »Ich weiß nicht, ob Satan wirklich existiert – ich selbst bin ihm nie begegnet –, aber ich weiß, daß es dort draußen Kreaturen gibt, die dich verdammen würden, wenn sie könnten, einfach nur aus Bosheit. «
Das war nichts, was ich nicht auch schon in der Kirche gehört hatte. Aber mein Bruder sagte es auf eine andere Weise als die Prediger. Für mich klang es so, als hätte Alexander mehr Glauben, aber das traf es nicht ganz. Es klang, als glaubte er, einen Beweis zu haben.
»Alexander, was ist denn passiert?« flüsterte ich. Seine Worte sollten offensichtlich eine Warnung sein, aber ich konnte sie nicht verstehen.
Alexander seufzte tief. »Ich habe einen Fehler gemacht, Rachel.« Danach wollte er nichts mehr dazu sagen.
An diesem Abend legte ich mich sehr aufgewühlt schlafen. Ich hatte einerseits Angst davor, Alexanders Worte zu verstehen, und andererseits eine noch größere Angst, weil ich nicht wußte, was sie bedeuteten.
Gegen elf Uhr hörte ich Schritte auf dem Flur, so als würde jemand erfolglos versuchen, leise zu sein. Ich stand lautlos auf, um Lynette nicht zu wecken, mit der ich das Zimmer teilte, und ging auf Zehenspitzen zur Tür.
Ich lief in die Küche und konnte gerade noch einen Blick auf Alexander erhaschen, als er aus der Hintertür ging. Ich folgte ihm und fragte mich, warum er so spät nachts aus dem Haus schlich.
Ich kannte den abwesenden Ausdruck auf seinem Gesicht gut: Er hatte sicher wieder im Geist etwas gesehen. Welche Vision auch immer ihn geweckt hatte, sie hatte ihm Angst eingejagt, und es schmerzte mich, daß er an meiner Tür vorbeigelaufen war, ohne auch nur zu zögern, ohne mich ins Vertrauen zu ziehen.
Alexander war verschwunden, aber ich blieb zögernd im Türrahmen stehen, weil ich hinter dem Haus Stimmen hörte. Alexander unterhielt sich mit Aubrey und einer Frau, die ich nicht kannte. Sie hatte einen anderen Akzent als Aubrey, aber auch ihrer war mir fremd. Damals wußte ich noch nicht, daß sie mit einer Sprache aufgewachsen war, die schon lange tot war.
Die Frau, mit der Alexander sprach, hatte schwarze Haare, die auf ihre Schultern fielen und sich wie eine dunkle Korona um ihre totenblasse Haut und ihre schwarzen Augen legten. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid und auffälligen Silberschmuck, der beinahe ihre ganze linke Hand bedeckte. Um ihr rechtes Handgelenk wand sich eine silberne Schlange, deren Augen aus Rubinen bestanden.
Das schwarze Kleid, der Schmuck und mehr als alles andere die rotäugige Schlange ließen mich nur an ein Wort denken: Hexe.
»Wieso sollte ich?« fragte sie gerade Alexander.
»Laß dieses Haus einfach in Ruhe!« befahl er. Es klang ganz ruhig, aber ich kannte ihn zu gut. Ich hörte das Beben in seiner Stimme – den Klang von Wut und Angst.
»Versuchung«, sagte die Frau und
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