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In den W?ldern tiefer Nacht

In den W?ldern tiefer Nacht

Titel: In den W?ldern tiefer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amelia Atwater-Rhodes
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nicht geboren war.
 
     
     

2
 
     
    1701
     
     
 
    Meine blasse Haut war mit einer Ascheschicht überzogen, die von dem Versuch stammte, das Feuer zu löschen. Als meine Schwester Lynette das Abendessen vorbereitet hatte, waren die Flammen wie Arme aus dem Herd geschossen, die nach ihr zu greifen schienen. Mein Zwillingsbruder Alexander stand am anderen Ende des Zimmers, dem Ofen gegenüber. Er war fest davon überzeugt, daß er den Unfall verschuldet hatte.
      »Bin ich denn verdammt?« fragte er und starrte an mir vorbei in die inzwischen erkaltete Feuerstelle.
      Welche Antwort wollte er von mir hören? Ich war erst siebzehn, noch ein Mädchen und ganz gewiß kein Prediger. Ich wußte nichts über Verdammnis und Erlösung, das mein Zwillingsbruder nicht auch selbst wußte. Trotzdem sah Alexander mich mit seinen goldenen Augen voller Sorge und Scham an, als wüßte ich auf alles eine Antwort.
      »Das solltest du besser einen Prediger fragen, nicht mich«, antwortete ich.
      »Einem Prediger erzählen, was ich sehe? Ihm sagen, daß ich die Gedanken anderer Menschen lesen kann, daß ich...«
      Seine Stimme erstarb, aber wir wußten beide, wie das Ende des Satzes lautete. Alexander versuchte seit Monaten, seine Fähigkeiten zu verbergen, die ebenso unerwünscht waren wie das Feuer gerade eben. Zitternd vor Angst hatte er mir schließlich davon erzählt. Er konnte manchmal die Gedanken der Leute um ihn herum lesen, obwohl er sich bemühte, sie nicht an sich heranzulassen. Wenn er sich darauf konzentrierte, konnte er sogar Gegenstände bewegen. Und, hatte er hinzugefügt, wenn er in ein Feuer starrte, konnte er es anfachen oder löschen. Trotz seiner verzweifelten Bemühungen, diese Kräfte zu kontrollieren, waren sie manchmal stärker als er.
      Lynette hatte unser Abendessen gekocht. Jetzt war sie mit unserem Papa beim Arzt, der ihre Verbrennungen behandelte.
      »Das ist Hexerei«, flüsterte Alexander, als hätte er Angst, die Worte auszusprechen. »Wie soll ich nur einem Mann der Kirche davon erzählen?«
      Wieder konnte ich ihm keine Antwort geben. Alexander glaubte viel mehr als ich daran, daß unsere Seelen in Gefahr waren. Obwohl wir beide immer unsere Gebete sprachen und regelmäßig zur Kirche gingen, war ich eher skeptisch, während er glaubte. In Wahrheit hatte ich mehr Angst vor den kalten, gebieterischen Predigern als vor den Höllenfeuern, mit denen sie uns bedrohten. Und mit den Kräften meines Bruders hätte ich die Kirche noch mehr gefürchtet.
      »Vielleicht ist genau das damals mit unserer Mutter passiert«, sagte Alexander leise. »Vielleicht habe ich sie verletzt.«
      »Alexander!« keuchte ich, entsetzt, daß mein Bruder so etwas auch nur denken konnte. »Wie kannst du dich an Mutters Tod schuldig fühlen? Wir waren doch noch Babys!«
      »Wenn ich noch mit siebzehn die Kontrolle verlieren und dadurch Lynette verletzen kann, wieviel einfacher wäre es gewesen, als ich ein Kind war?«
      Ich konnte mich nicht an meine Mutter erinnern, obwohl mein Papa manchmal von ihr sprach. Sie war nur wenige Tage nach meiner und Alexanders Geburt gestorben. Ihre Haare waren noch heller gewesen als die von mir und meinem Bruder, aber unsere Augen hatten genau die gleiche Farbe wie ihre. Mit ihrem exotischen Honiggold waren unsere Augen in ihrer Einzigartigkeit geradezu gefährlich. Wenn meine Familie im Dorf nicht so anerkannt gewesen wäre, hätten wir wegen unserer Augen der Hexerei beschuldigt werden können.
      »Du bist ja nicht einmal sicher, daß du für die Verletzungen von Lynette verantwortlich bist«, sagte ich zu Alexander. Lynette war das dritte Kind meines Papas, die Tochter seiner zweiten Frau, die erst letztes Jahr an Pocken gestorben war. »Sie hat sich bestimmt zu dicht über das Feuer gebeugt, oder vielleicht waren die Holzscheite an einer Stelle ölig. Und selbst wenn du es warst, war es nicht deine Schuld.«
      »Hexerei, Rachel«, sagte Alexander leise. »Ein wie schweres Verbrechen ist das? Ich habe jemanden verletzt, und ich werde nicht einmal zur Beichte deswegen gehen.«
      »Es war nicht deine Schuld!« Warum bestand er nur darauf, sich die Schuld zu geben, wenn er es sowieso nicht hätte verhindern können?
      Mein Bruder war ein Heiliger für mich – er konnte es sogar kaum aushalten, wenn Papa fürs Abendessen die Hühner schlachtete. Ich wußte noch besser als er selbst, daß er nie jemanden willentlich verletzen könnte. »Du hast nicht um diese

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