In der Mitte des Lebens
verändern.
Auf einem Kongress lutherischer Theologen aus aller Welt, auf dem ich eine Rede zu halten hatte, sprach nach mir der Theologe Ramathate Dolamo aus
Südafrika. Er vertrat die Position, die Missionare hätten in Afrika einen großen Fehler gemacht, weil sie den »Ahnenkult« verdammt hätten. Damit hätten
sie eine Beheimatung des Christentums in Afrika erschwert. Er plädierte dafür, den Begriff »Ahnenkult« zu tilgen, aber in der Sache Wichtiges zu
erhalten. Denn es gehe letzten Endes darum, sich zu erinnern an die Väter und Mütter und das eigene Leben im Zusammenhang der Generationen zu
sehen. Nichts anderes sei schließlich auch die Heiligenverehrung der römisch-katholischen Kirche oder auch die Namensgebung in der lutherischen
Kirche. Mir geht dieser Vortrag nach. Erinnern wir uns genug? Geht das 4. Gebot, »Vater und Mutter zu ehren«, nicht verloren, wenn wir immer nur die
Zukunft gestalten? Wir kommen irgendwo her, und wir gehen nicht nur irgendwo hin. Kinder, die adoptiert wurden, suchen ja oft geradezu verzweifelt nach
den biologischen Eltern, weil ihnen so sehr an ihren Wurzeln liegt, um die eigene Identität zu klären. Dabei ist die Biologie das eine, die Gene haben
natürlich Bedeutung. Aber die »Meme« eben auch, von denen Clinton Richard Dawkins spricht (s. S. 18), die Kultur, das Umfeld, in dem wir aufwachsen, die
Gefühle, die wir als prägend erfahren.
Wer heute vor dem kleinen Häuschen meiner Eltern in Stadtallendorf steht, wird sicher »Enge« denken. Aber als Kind habe ich diese Enge wie gesagt weit
erlebt. Geborgen in einem Umfeld, in dem jeder jeden kannte, und in diesen sechziger Jahren, in denen das Lebensgefühl herrschte: Jeder und jede kann
alles werden. Dass ich Bischöfin werden würde, daran hat wohlgemerkt niemand gedacht, meine Eltern hatten das ganz gewiss nicht im Sinn … Aber ihr
Zutrauen in mich hat mich auf meinem Weg bestärkt.
Angerührt hat mich, während ich über all dies nachdenke – und es war auch noch Muttertag! –, ein Text von Gabriele Hartlieb über ihre Mutter:
Stark war sie nicht
Nicht unerschütterlich
Nicht ohne Angst
Lachen konnte sie
Mit ihr wusste ich
Wo es langgeht
Wie es weitergeht
Was wichtig ist
Was richtig
Dass es gut wird
30 Jahre lang hatte ich sie:
Die wichtigste Frau meines Lebens
Am Ende
(sie war 60, ihr Haar noch nicht grau)
Brauchte sie
Meine Kraft
Meine Fröhlichkeit
Meine hilflose Hoffnung
Gerne hätte ich ihr Altwerden gesehen
Es hätte ihr gut gestanden
Stark war sie nicht
Aber ihr Erbe ist mächtig
Die Freude am Leben 16
Am selben Tag die SMS eines Freundes: »Ich möchte dir heute liebe Grüße senden. Meine Mutter kann ich leider nicht mehr
erreichen …«
Die Mitte des Lebens lenkt den Blick nicht nur nach vorn, sondern auch zurück. Ich finde das anrührend. Die Wurzeln suchen, über Orte nachdenken, in denen wir zu Hause waren oder sind, das scheint mir hilfreich für die kommende Wegstrecke. Der bekannte Satz des Philosophen Søren Kierkegaard, das Leben werde nach vorn gelebt und nach rückwärts verstanden, wird ja in verschiedenen Lebensphasen unterschiedlich gehört. In jungen Jahren leben wir ständig vorwärts, sind gefordert, versuchen, zu bewältigen, was an Herausforderungen auf dem Weg liegt. Wenn wir älter werden, suchen wir Haltepunkte, versuchen einzuordnen, was wir erleben, halten Ausschau nach Zusammenhängen. Und da geht der Blick auch immer öfter zurück.
1 Lukas 15,12f.
2 Ingke Brodersen/Renée Zucker, Werden Sie wesentlich! Die Frau um 50, München 2007,
S. 34f.
3 Lukas 15.
4 Margot Käßmann, Mütter der Bibel, Freiburg 2008.
5 Peukert, Rüdiger, Familienformen im sozialen Wandel, Ort? 2008, S. 105.
6 Ebd. S. 103f.
7 Psalm 71,9.
8 Gesundheitsmagazin »Apotheken Umschau« 2/2009.
9 Vgl. Simone de Beauvoir, Ein sanfter Tod, Berlin 2007.
10 Ebd., S. 29.
11 Ebd., S. 106.
12 Ebd., S. 104.
13 Vgl. Michael Roth, Dürers Mutter, Berlin 2006.
14 Ebd., S. 7.
15 Beate Lakotta, Walter Schels, Nochmal leben vor dem Tod, München 2004.
16 in: Simone Burster/Petra Heilig/Susanne Herzog (Hg.), Mächtig lebendig – Frauenkalender
2009, © Schwabenverlag, Ostfildern, 20. Woche.
Für den Körper sorgen
»Mein Körper verändert sich, ich kann machen, was ich will«, sagt mir eine Freundin. Das ist ja eine völlig normale Erfahrung in der
Mitte des Lebens. Eine andere sagt: »Ich habe zehn Kilo zugenommen, was ich auch mache, Sport,
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