In der Nacht (German Edition)
sah zu Ciggy und den Jungs hinüber, doch niemandem war etwas aufgefallen. Das ist mein Bruder, hätte er am liebsten gesagt. Mein Bruder .
Auf der Fahrt mit dem Bus zurück nach Arcenas wollte ihm der Film nicht mehr aus dem Kopf gehen. Keine Frage, es war ein Western, wie er im Buche stand, mit vielen Schießereien, einer jungen Dame in Not und einer halsbrecherischen Verfolgungsjagd, bei der eine Postkutsche nur knapp einem Sturz in den Abgrund entging. Aber wer Danny kannte, der wusste, dass weit mehr dahintersteckte. Tex Moran, die Hauptfigur, war ein ehrlicher Sheriff, der es mit einer verkommenen Stadt zu tun bekam. Einer Stadt, in der sich eines Nachts die Stützen der Gemeinde zusammenfanden, um ein Mordkomplott gegen einen dunkelhäutigen Einwanderer zu schmieden, der als Farmer unter ihnen lebte. Angeblich hatte er der Tochter eines der Honoratioren zu lang ins hübsche Gesicht geschaut. Am Ende war der Film weniger radikal, als der Anfang versprochen hatte – die guten Städter wurden zum Besseren bekehrt, doch erst, nachdem der Einwanderer von einer Bande Fremder mit schwarzen Hüten getötet worden war. Soweit Joe es beurteilen konnte, bestand die Moral des Films offenbar darin, dass eine Gefahr von außen immer eine größere Bedrohung darstellte. Was schlicht und einfach Unfug war, das wusste Danny garantiert ebenso gut wie er selbst.
Trotzdem hatten sie sich köstlich amüsiert; die Jungs waren völlig aus dem Häuschen. Die ganze Busfahrt redeten sie über nichts anderes als die Colts und Patronengurte, die sie sich kaufen würden, wenn sie groß waren.
Im Spätsommer erhielt er aus Genf ein Paket, in dem sich seine Uhr befand. Sie lag in einem mit Samt ausgeschlagenen Mahagonikästchen und war auf Hochglanz poliert.
Joe war so außer sich vor Freude, dass er sich erst nach Tagen eingestand, dass sie immer noch ein wenig nachging.
Im September erhielt Graciela per Post die Nachricht, dass der Freundeskreis von Ybor sie zum Dank für ihr soziales Engagement zur Frau des Jahres gewählt hatte. Der Freundeskreis von Ybor war ein loser Zusammenschluss von Kubanern, Spaniern und Italienern, die sich einmal im Monat trafen, um gemeinsame Anliegen zu verhandeln. Allein im ersten Jahr hatte sich der Freundeskreis dreimal aufgelöst; nahezu jedes Treffen war in Zank und Streit geendet. Meistens lagen sich die Spanier und die Kubaner in den Haaren, doch um nicht außen vor zu bleiben, pflegten sich die Italiener ebenfalls gelegentlich einzumischen. Nachdem genug böses Blut geflossen war, hatten sie sich schließlich auf ihre Gemeinsamkeiten besonnen und in kürzester Zeit zu einem höchst einflussreichen Interessenverband entwickelt. Sollte Graciela die Ehrung annehmen, hieß es in dem Brief, würde aus diesem Anlass am ersten Oktoberwochenende eine Gala im Don Ce-Sar Hotel in St. Petersburg Beach stattfinden.
»Was meinst du?«, fragte Graciela ihn beim Frühstück.
Joe fühlte sich beschissen. Seit einiger Zeit verfolgte ihn ein immergleicher Alptraum. Er träumte, dass er mit seiner Familie irgendwo in einem fernen Land war, er hatte das Gefühl, es müsse Afrika sein, wusste jedoch selbst nicht, wie er darauf kam. Vielleicht, weil sie inmitten von hohem Gras standen und es verdammt heiß war. Am Rand seines Blickfelds, weit weg von ihnen, tauchte stets sein Vater auf. Er sagte kein Wort, sah nur zu, wie sich die Panther anschlichen, geschmeidig und mit gelben Augen. Ihr Fell hatte denselben Braunton wie das hohe Gras, so dass man sie erst sah, wenn es bereits zu spät war. Als Joe sie bemerkte, stieß er einen gellenden Schrei aus, um Graciela und Tomas zu warnen, doch die Raubkatze, die auf seiner Brust saß, hatte ihm bereits die Kehle durchgebissen. Er sah das Rot seines Blutes an den riesigen weißen Zähnen, und dann schloss er die Augen, als sich der Kopf der Katze ein zweites Mal herabsenkte.
Er trank noch einen Schluck Kaffee und verbannte den Traum aus seinem Kopf.
»Ich finde«, sagte er, »dass du mal wieder in Ybor vorbeischauen solltest.«
Die Renovierung des Hauses ging schneller voran als erwartet. Und in der Woche zuvor hatten Joe und Ciggy bereits den Rasen für das Spielfeld ausgesät. Einstweilen hielt sie nichts in Kuba außer Kuba selbst.
Sie fuhren Ende September, als die Regenzeit vorüber war. Sie verließen Havanna mit einem Dampfschiff, überquerten die Florida Straits und schipperten dann die Westküste der Halbinsel entlang, bis sie am späten Nachmittag des 29.
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