In der Nacht (German Edition)
1
Ein Langschläfer im Land der Frühaufsteher
Ein paar Jahre später fand sich Joe Coughlin auf einem Schlepper im Golf von Mexiko wieder. Seine Füße steckten in einem Block Zement. Zwölf bewaffnete Kerle warteten darauf, dass sie endlich weit genug draußen waren, um ihn über Bord werfen zu können, während Joe dem Tuckern des Motors lauschte, den Blick auf das schäumende Kielwasser gerichtet. Und plötzlich kam ihm der Gedanke, dass sein Leben – im positiven wie im negativen Sinne – nicht halb so bemerkenswert verlaufen wäre, hätte ihn das Schicksal an jenem Morgen nicht mit Emma Gould zusammengeführt.
Sie begegneten sich kurz nach Morgengrauen, an einem Tag im Jahre 1926, als Joe und die Bartolo-Brüder die Spielhölle im Hinterzimmer eines Speakeasy in South Boston ausraubten. Als sie den Fuß über die Schwelle setzten, hatten Joe und die Bartolos keine Ahnung, dass auch dieses Speakeasy Albert White gehörte. Ansonsten hätten sie auf dem Absatz kehrtgemacht und die Beine in die Hand genommen.
Die Hintertreppe war kein Problem. Auch die Bar, die sich zusammen mit dem Kasino im hinteren Teil eines Möbellagers am Hafen befand, passierten sie ohne Zwischenfall; Joes Boss, Tim Hickey, hatte ihm versichert, dass der Laden ein paar harmlosen Griechen gehörte, die kürzlich aus Maryland zugezogen waren. Doch als sie das Hinterzimmer betraten, war dort eine Pokerrunde in vollem Gange; über den fünf Spielern, die bernsteinfarbenen Whiskey aus schweren Kristallgläsern tranken, hing ein grauer Teppich aus Zigarettenrauch. In der Mitte des Tischs stapelte sich ein beachtlicher Haufen Geld.
Keiner der Männer sah griechisch aus. Oder harmlos. Da sie ihre Anzugjacken über die Stuhllehnen gehängt hatten, waren die Waffen an ihren Hüften deutlich zu sehen. Als Joe, Dion und Paolo mit gezückten Pistolen den Raum betraten, griff keiner von ihnen nach seiner Waffe, doch Joe sah genau, dass zwei, drei von ihnen durchaus mit dem Gedanken spielten.
Eine junge Frau war gerade dabei, Drinks zu servieren. Sie stellte das Tablett auf dem Tresen ab, nahm ihre Zigarette aus einem Aschenbecher und zog daran; mit einem Gesichtsausdruck, als fiele es ihr schwer, angesichts der drei Pistolen ein Gähnen zu unterdrücken. Und sonst habt ihr nichts zu bieten, Jungs?
Joe und die Bartolos hatten ihre Hüte tief in die Stirn gezogen und trugen schwarze Tücher über Mund und Nase. Eine gute Idee, denn hätte sie einer der Männer erkannt, hätten sie bestenfalls noch einen halben Tag zu leben gehabt.
Ein Spaziergang, hatte Tim Hickey gesagt. Ihr schlagt bei Morgengrauen zu, wenn sich bloß noch ein paar müde Gestalten im Hinterzimmer herumtreiben.
Und nun sahen sie sich fünf bewaffneten Gangstern gegenüber.
»Ihr wisst, wem der Laden hier gehört?«, fragte einer der Spieler.
Joe hatte den Mann noch nie gesehen, aber den Kerl neben ihm kannte er – Brenny Loomis, Exboxer und einer von Albert Whites Leuten, Tim Hickeys größtem Rivalen im Schwarzbrenner-Geschäft. Seit neuestem ging das Gerücht, dass Albert kistenweise Thompson-Maschinenpistolen für einen bevorstehenden Bandenkrieg hortete. Es hieß: Wer auf der falschen Seite stand, stand schon mit einem Bein im Grab.
»Solange hier keiner Dummheiten macht, passiert auch niemandem was«, sagte Joe.
Der Mann neben Loomis ergriff abermals das Wort. »Ich habe dich gefragt, ob du weißt, wem die Bude hier gehört, du Vollidiot.«
Dion Bartolo schlug ihm mit der Pistole ins Gesicht, so hart, dass er blutend von seinem Stuhl fiel. Was allen anderen anschaulich vor Augen führte, dass das nicht sonderlich erstrebenswert war.
»Alle auf die Knie, und Hände hinter den Kopf«, sagte Joe. »Das Mädchen kann stehen bleiben.«
Brenny Loomis sah Joe herausfordernd an. »Wenn das hier vorbei ist, rufe ich deine Mutter an, Junge. Damit sie schon mal deinen Sarg bestellen kann.«
Loomis war ein ehemaliger Vereinsboxer, der des Öfteren in der Mechanics Hall gekämpft hatte; ihm wurde nachgesagt, er habe einen Schlag wie ein Sack Billardkugeln. Er tötete im Auftrag von Albert White. Bislang zwar nur gelegentlich, aber die Leute munkelten, dass er bei Bedarf sicher auch nichts gegen eine Vollzeitstelle einzuwenden hatte.
Als Joe in Loomis’ winzige braune Augen sah, machte er sich fast in die Hose, doch er deutete trotzdem mit seiner Pistole auf den Boden, einigermaßen verblüfft darüber, dass seine Hand nicht zitterte. Brendan Loomis verschränkte die Hände
Weitere Kostenlose Bücher