In die Wildnis
erklärt John Bryant, ein Chemie - Ökologe an der University of Alaska in Fairbanks, »daß sich im Spätsommer ihre Samenschalen mit Alkaloiden anreichern, um sich vor pflanzenfressenden Tieren zu schützen. Je nach Jahreszeit wäre es für eine Pflanze mit eßbaren Wurzeln nicht ungewöhnlich, giftige Samen zu haben. Wenn es sich um eine alkaloid - produzierende Spezies handelt, ist das Gift gegen Ende des Sommers am ehesten in den Samen zu finden.«
Ich hatte damals während meines Aufenthalts am Sushana River ein paar Proben der H. alpinum gesammelt, die nur ein paar Meter vom Bus entfernt wuchsen. Die Samentriebe schickte ich an Tom Clausen, einen Kollegen von Professor Bryant an der chemischen Fakultät der University of Alaska. Eine abschließende spektographische Analyse steht noch aus, aber erste durch Clausen und einen seiner Studenten, Edward Treadwell, durchgeführte Tests zeigen, daß die Samen in jedem Falle Spuren von Alkaloiden enthalten. Überdies handelt es sich bei dem nachgewiesenen Alkaloid aller Wahrscheinlichkeit nach um Swainsonin, eine chemische Base, die Ranchern und Viehzüchtern als das toxische Agens im Narrenkraut bekannt ist.
Es gibt ungefähr fünfzig verschiedene Arten von giftigem Narrenkraut. Die meisten davon gehören zur Gattung der Astragalus - einer Gattung, die eng verwandt ist mit Hedysarum. Die auffälligsten Symptome einer Narrenkrautvergiftung sind neurologischer Art. Einer im Journal of the American Vetinary Medicine Association veröffentlichten Studie zufolge ruft eine derartige Vergiftung unter anderem »Niedergeschlagenheit, einen langsamen, schleppenden Gang, glanzloses Fell, einen leeren, starren Blick, starken Gewichtsverlust, Bewegungsstörungen und Nervosität (insbesondere in Momenten größerer Belastung) hervor. Darüber hinaus neigen von einer Vergiftung betroffene Tiere in der Regel zur Bockigkeit. Sie sondern sich ab und lassen sich kaum mehr zur Nahrungsaufnahme oder zum Trinken bewegen. «
Mit Clausens und Treadwells Entdeckung, daß die Samen Wilder Kartoffeln möglicherweise Swainsonin oder eine ähnlich toxische Base speichern, könnte ein schlüssiger Beweis dafür gefunden sein, daß diese Samen McCandless' Tod herbeigeführt haben. In diesem Fall wäre McCandless jedoch nicht der sorglose Traumtänzer, als der er immer hingestellt wurde. Er hat nicht leichtfertig eine Spezies mit der anderen verwechselt. Die Pflanze, die ihm zum Verhängnis wurde, war nicht als toxisch bekannt - in der Tat hatte er sich von ihren Wurzeln wochenlang problemlos ernährt. In seinem Hunger beging er lediglich den Fehler, sich auch die Samentriebe einzuverleiben. Jemand mit einem besseren Verständnis für botanische Zusammenhänge hätte sie wahrscheinlich nicht gegessen. Der Irrtum ist jedoch durchaus verständlich - dennoch kostete er ihn das Leben.
Die Folgen einer Swainsoninvergiftung sind chronischer Natur - das Alkaloid führt nur selten den direkten Tod herbei. Das Toxin ist heimtückisch und wirkt indirekt. Es hemmt ein Enzym, das für den Stoffwechsel von Glykoproteiden unentbehrlich ist. Wie in den Benzinleitungen eines Verbrennungsmotors ruft es in den Nachschubbahnen des Körpers erhebliche Blasenbildung hervor: Der Organismus wird daran gehindert, Nährstoffe in brauchbare Energie umzuwandeln. Wer zuviel Swainsonin zu sich nimmt, verhungert zwangsläufig, egal wieviel Nahrung er in sich hineinstopft.
Ein gesundes, robustes Tier kann es mitunter schaffen, sich von einer Swainsoninvergiftung zu erholen. Das Toxin kann durch den Urin wieder ausgeschieden werden. Dazu muß es sich jedoch zuerst mit einer ausreichenden Anzahl von Glukosemolekülen oder Aminosäuren verbinden. Gleichzeitig bedarf es einer großen Menge an Eiweiß und Zuckerstoffen, die das Gift aufsaugen und aus dem Körper spülen.
»Das Problem ist«, sagt Professor Bryant, »daß jemand, der geschwächt ist und an starkem Hunger leidet, natürlich keine überschüssigen Eiweiß und Zuckerstoffe freisetzen kann. Das Gift kann also nicht aus dem Organismus gespült werden. Ein verhungerndes Säugetier wird von einem Alkaloid - selbst einem so harmlosen wie Koffein - viel stärker in Mitleidenschaft gezogen als gewöhnlich. Ohne die nötigen Glukosereserven kann es das Zeugs nicht abbauen. Das Alkaloid speichert sich einfach im Organismus. Falls McCandless eine größere Portion von diesen Samen gegessen hat und bereits in halbverhungertem Zustand war, wäre das der Nagel zu seinem Sarg
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