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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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hatte genug zu essen. Wahrscheinlich hielt er es einfach für das beste, bis August auszuharren und zu warten, bis der Teklanika weit genug zurückgegangen war, um ihn zu überqueren.
    Nachdem er sich in dem rostigen Wrack des 142er Busses wieder eingerichtet hatte, nahm er erneut sein Jäger und Sammlerleben auf. Er las Tolstois »Der Tod des Iwan Iljitsch« und Michael Crichtons »Terminal Man«. In seinem Tagebuch ist zu lesen, daß es eine Woche lang pausenlos regnete. An Wild herrschte kein Mangel: In den letzten drei Juliwochen erlegte er fünfunddreißig Eichhörnchen, vier Rebhühner, fünf Eichelhäher und Spechte sowie zwei Frösche. Dies alles ergänzte er mit Trichterwindenwurzeln, wildem Rhabarber, verschiedenen Beerensorten und jeder Menge Pilze. Obwohl dies alles recht üppig erscheinen mag, war an den Tieren, die er erlegte, nur wenig Fleisch, und er verbrannte mehr Kalorien, als er zu sich nahm. Seit nunmehr drei Monaten schlug er sich mit einem Speiseplan von äußerst geringem Nährwert durch. Er litt mittlerweile unter beträchtlichem Kaloriendefizit, und seine Gesundheit hing an einem seidenen Faden. Ende Juli beging er schließlich den entscheidenden Fehler.
    Er hatte gerade »Doktor Schiwago« zu Ende gelesen, ein Buch, das ihm sehr gefiel. Begeistert kritzelte er die Seitenränder mit Anmerkungen voll und hob mehrere Passagen hervor:
    Lara ging unfeinem Pfade, der an Gleisen entlangführte und von Pilgern und Wallfahrern benutzt wurde. Dann bog sie in eine Wiese ein, die am Waldrand lag. Hier pflegte sie haltzumachen und die Augen halb zu schließen, um die berauschend duftende Luft der unendlichen Waldweite in sich einzusaugen. Diese Luft war ihr mehr verwandt als Vater und Mutter, sie war ihr vertrauter als ihr Geliebter, sie lehrte sie eine tiefere Weisheit als jedes Buch. Für einen Augenblick erschloß sich ihr aufs neue des Lebens Sinn. Sie erkannte, daß sie hier war, um sich in der fast unfaßbaren Schönheit und Herrlichkeit der Erde zurechtzufinden und um allen Dingen einen Namen zu geben.
    Wenn dies jedoch ihre Kraft überstieg, so wollte sie, aus Liebe zum Leben, Nachkommen gebären, die an ihre Stelle treten würden.
    »NATUR/REINHEIT«, schrieb er in fetten Druckbuchstaben über die Seite.
    McCandless versah den Absatz mit Sternchen und Klammern. »Zuflucht in der Natur« kreiste er mit schwarzer Tinte ein.
    An den Rand von »And so it turned out...« schrieb er die Bemerkung,
    »GLÜCK NUR DANN ECHT, WENN GEMEINSAM MIT ANDEREN«.
    Die letzte Anmerkung bietet sich an als weiterer Beweis dafür, daß McCandless' lange, einsame Wanderjahre ihn auf tiefgreifende Art verändert hatten. Vielleicht kann sie auch so gedeutet werden, daß er bereit war, den Panzer, den er um sein Herz gelegt hatte, ein wenig zu lockern, daß er sich vornahm, bei seiner Rückkehr in die Zivilisation sein einsames Vagabundenleben aufzugeben und nicht mehr weiter vor Nähe und Intimität die Flucht zu ergreifen, ja sich sogar wieder in die menschliche Gemeinschaft einzugliedern. Wir werden es jedoch nie erfahren, denn »Doktor Schiwago« war das letzte Buch, das McCandless jemals lesen sollte.
    Am 30. Juli, zwei Tage nachdem er das Buch zu Ende gelesen hatte, verzeichnet sein Tagebuch einen unheilverkündenden Eintrag:
    »EXTREM SCHWACH. WEGEN KARTSAMEN. KANN MICH KAUM AUF DEN BEINEN HALTEN. BIN AM VERHUNGERN. SCHWEBE IN LEBENSGEFAHR.«
    Vor diesem Eintrag steht in dem Tagebuch nichts, das vermuten ließe, McCandless befände sich in ernster Notlage. Er litt an Hunger und war durch anhaltend schlechte Ernährung bis auf Haut und Knochen abgemagert. Sein Allgemeinzustand schien jedoch alles in allem gut. Dann, nach dem 30. Juli, ging es mit seiner körperlichen Verfassung plötzlich rasant bergab. Am 19. August war er tot.
    Es wurde viel darüber gemutmaßt, was die Ursache eines solch rapiden Verfalls gewesen sein könnte. Wayne Westerberg konnte sich in den Tagen nach der Identifizierung der Leiche noch vage daran erinnern, daß Chris sich in South Dakota Saatgut gekauft hatte. Darunter seien möglicherweise auch Kartoffelsamen gewesen. McCandless habe vorgehabt, einen Gemüsegarten anzulegen, nachdem er sich in der Wildnis einigermaßen eingelebt habe. Eine Theorie besagt, daß McCandless nie dazu gekommen sei, den Garten anzulegen (ich habe in der Umgebung des Busses keinen Hinweis auf einen Garten entdecken können). Ende Juli habe der Hunger ihn dann dazu getrieben, die Samen zu essen, was schließlich

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