Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
EINS
Im Rumänien der 1980er Jahre war Langeweile nichts Harmloses, sondern etwas Hochbrisantes: Sie benebelte und quälte die Menschen; sie war der Grund, über den die Tage knirschten wie ein Bootskiel über einen Kiesstrand. Im Westen ist Langeweile gleichbedeutend mit unerfüllter Zeit, in der man die Musik des Lebens aus den Ohren verliert. Die Langeweile in einem totalitären Staat ist etwas anderes. Sie ist unablässige Erwartung, getrübt von der Ahnung ihrer Unerfüllbarkeit. Die Vorfreude und das Ereignis verbinden sich zu einer Endlosschleife von Spannung und Enttäuschung.
Das sah man an den Schlangen, die sich vor den Läden bildeten, wenn Sardellenkonserven aus Nordkorea, Flaschen mit lausigem jugoslawischem Sliwowitz oder Brote eintrafen, die nur aus Kartoffelstaub zu bestehen schienen. Die Leute warteten bei eisigen Temperaturen oder brütender Hitze, setzten mit ausdruckslosem Blick und ertaubten Gliedern einen Fuß vor den anderen. Niemand wusste, wie viel es gab. Oft wusste man nicht einmal genau, was es gab. Man stand vier Stunden Schlange, und wenn man den Tresen erreichte, erfuhr man, dass nichts mehr da war. Die einen vergaßen, wofür sie sich angestellt hatten, die anderen fragten sich, was sie schließlich in den Händen hielten. Man wollte Brot und bekam Jugo-Fusel; Säufer, die den Fusel dringend brauchten, erhielten Sardinen oder Schuhcreme, und beides unterschied sich ganz sicher nicht im Geschmack. Manchmal veränderte sich das Objekt der Begierde: Man wollte Fleisch, stand auf halbem Weg aber für Basketballschuhe aus China an; israelische Apfelsinen verwandelten sich in Wegwerfkameras aus der DDR. Doch man kaufte alles, egal was es war. Das Bezahlen mit barer Münze war nur ein Vorspiel; innerhalb weniger Stunden wurden die neuen Waren auf dem Schwarzmarkt verschachert.
Man konnte nicht vorhersagen, an welchen Waren plötzlich Mangel herrschen, welches banale Alltagsprodukt auf einmal zum Luxusgut werden würde. Das bekamen sogar die Toten zu spüren. Seit Beginn der gigantischen Bauprojekte in den frühen achtziger Jahren war der Bedarf an Marmor und Stein für Fassaden und Innenräume stetig gestiegen. Auf den Friedhöfen wurden die Gräber deshalb mit Holzbrettern, Tischbeinen, Stühlen und sogar Besenstielen markiert. Ceaușescus neuer Palast des Volkes konnte nicht nur nach Quadratmetern, sondern auch nach Grabsteinen bemessen werden. Unter anderen Umständen wäre das surreal gewesen, aber leider war es die einzige zur Verfügung stehende Realität.
Bei meiner Ankunft war ich voller Optimismus, was ich im Rückblick als sicheres Zeichen dafür deute, dass die Dinge schiefgehen mussten, und zwar ganz gewaltig. Nicht, was mich betraf, denn ich war nur auf Stippvisite oder besser: im Transit. Was sich ereignete, geschah ringsumher und über meinen Kopf, ja sogar über meinen Körper hinweg, aber es betraf mich nie persönlich . Nicht einmal, als ich während der letzten hundert Tage mitten im Geschehen steckte.
Als ich Mitte April 1989 in Heathrow in das halb leere Flugzeug stieg, fühlte ich mich in die Vergangenheit zurückversetzt. Tarom war die rumänische Fluggesellschaft, aber ihre Flotte bestand aus ausrangierten Boeings von Air France, die man, wie in Rumänien üblich, überholt und aufpoliert hatte. Ich hatte das Gefühl, in die sechziger Jahre zurückversetzt worden zu sein. Die Stewardessen trugen kantig geschnittene Uniformen und runde Kappen.
Ich setzte mich weiter vorn in eine leere Reihe und blätterte in der abgegriffenen Broschüre der Fluggesellschaft. Sie war zwei Jahre alt, pries rumänische Spezialitäten und zeigte verwischte Modelle des »Boulevard des sozialistischen Sieges«, ein Bauvorhaben, das als »Höhepunkt der Vision eines modernen Rumäniens unter dem Genossen Präsident Nicolae Ceaușescu« bezeichnet wurde. Auf der zweiten Umschlagseite befand sich ein retuschiertes Foto von Ceaușescu – Tovarășul Conducător , Genosse Führer –, auf dem er zwanzig Jahre jünger wirkte und das aufgedunsene, marzipanrote Gesicht eines einbalsamierten Leichnams hatte.
Obwohl wir noch in Heathrow standen, wo ununterbrochen Flugzeuge landeten und starteten und das uferlose London in der Ferne zu sehen war, glich unser Flieger bereits einer aus Raum und Zeit gefallenen Kapsel. Sein Zielort und die dort herrschende Epoche schienen viel weiter entfernt zu sein als die dreieinhalb Flugstunden bis Bukarest.
Ich trug noch den schwarzen Anzug. Ich hatte weder
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