In einer anderen Haut
Freunde sein konnten, sagte er sich. Und so rief er sie am folgenden Wochenende an und machte ihr mehrere Vorschläge für einen Nachmittagsausflug. Genau das hätte Martine von ihm erwartet: einen Museumsbesuch, ein neuer Kinderfilm, Drachen steigen lassen. Er hatte alles genau geplant.
Grace klang gerührt und verwirrt zugleich. «Ist das nicht alles ziemlich anstrengend?», sagte sie. «Wir unternehmen nur selten etwas. Manchmal gehen wir in den Park.»
«Aber wie habt ihr sonst eure Wochenenden verbracht?», fragte er erstaunt. «Ich meine, vor deinem Unfall.»
Bei anderen Kindern, die er kannte – seine Nichte und Neffen eingeschlossen –, waren die Wochenenden komplett verplant. Noch vor ihrem fünften Lebensjahr wurden sie in Sportvereine gesteckt und erhielten Musik- und Kunstunterricht, sobald sie richtig laufen konnten. Dass Grace sich diesem Trend so komplett verweigerte, sah ihr eigentlich gar nicht ähnlich. Andererseits wusste er vielleicht gar nicht, wie sie wirklich war.
«Auch nicht viel», erwiderte sie. «Warum kommst du nicht einfach vorbei?»
Und das tat er dann auch. Grace saß auf dem Sofa wie in jenen Wochen nach ihrem Krankenhausaufenthalt, umgeben von verschiedenen Zeitungsausschnitten, unbeantworteter Post, einem Becher Tee und einem Teller mit einem halb gegessenen Sandwich. Sarah, deren blondes Haar zu Gretchenzöpfen geflochten war, lag vor ihr auf dem Teppich und setzte ein Puzzle zusammen. In der Küche lief das Radio – irgendeine hitzige Debatte wurde übertragen –, aber Grace schien nicht zuzuhören.
Sie fragte, ob er einen Tee, etwas zu essen oder ein Buch zum Lesen haben wollte – warum hatte er nicht daran gedacht, selbst eins mitzubringen? –, doch er lehnte höflich ab. Stattdessen nahm er sich den Politikteil der
Globe and Mail
und setzte sich in einen Lehnstuhl, den beiden gegenüber. Es war ein überaus anmutiger Anblick, dachte er, durch und durch weiblich. Ein derartiger Samstag wäre wohl der Traum seiner Mutter gewesen, statt mit ihm und seinem Bruder auf den Spielplatz zu gehen, wo sie regelmäßig mit Stöcken aufeinander eingeprügelt hatten.
Die Stimmung war so friedvoll und heiter, dass es ihn nahezu verblüffte, als er zwischendurch bemerkte, wie besorgt Grace ihre Tochter betrachtete. Er wusste, dass sie immer noch beunruhigt war, ihr Unfall könnte sich negativ auf Sarahs Psyche ausgewirkt haben, doch wenn dem tatsächlich so war, handelte es sich um einen oberflächlichen Schaden, der ihr nicht anzumerken war. Sarah trug Jeans und ein weißes T-Shirt und lag mit angewinkelten Beinen bäuchlings auf dem Boden. Ihr Puzzle hatte sie beiseitegelegt und las nun in einem Buch, das Kinn in die Hände gestützt und den Kopf so tief über die Seiten gesenkt, dass sie fast schielte. Mitch wartete darauf, dass Grace sie ausschimpfte – seine Mutter hätte es jedenfalls getan –, doch sie machte keine Anstalten, etwas zu sagen.
«Was bedeutet
eingewiesen?»
, fragte Sarah plötzlich. Es handelte sich ganz offensichtlich um ein Erwachsenenbuch, und Mitch fragte sich, ob sie nicht noch ein bisschen klein dafür war.
Grace schien sich darüber keine Gedanken zu machen. «Worum geht’s denn?»
«Das Mädchen wurde gegen ihren Willen
eingewiesen
und blieb fünf Jahre lang unter ärztlicher Aufsicht.»
«Okay», sagte Grace. «Und was heißt das, wenn es gegen ihren Willen geschah?»
«Dass jemand anders sie da reingesteckt hat.»
«Richtig. Und wo befindet sie sich, wenn dort Ärzte sind?»
«In einem Krankenhaus oder so?»
«Prima. Wenn jemand irgendwo eingewiesen wird, dann zum Beispiel in ein Krankenhaus, weil er Hilfe braucht.»
«Mein Vater wurde doch auch eingewiesen.»
Mitch blickte auf. Es war das erste Mal, dass ihr Vater erwähnt wurde.
«Nein, Sarah. Er wurde nie irgendwo eingewiesen.»
«Aber er war doch krank.»
«Ja. Er war krank, und schließlich ist er gestorben.»
«In einem Krankenhaus.»
«Er … Oh, jetzt verstehe ich, was du meinst.» Grace war ganz ruhig. Falls das Thema ihr an die Nieren ging, ließ sie sich nichts anmerken. «Also, wenn jemand eingewiesen wird, dann normalerweise in eine psychiatrische Einrichtung oder ins Gefängnis.»
«Aber mein Vater war nicht in so was.»
«Nein, Schatz», erwiderte Grace. «Das war er nicht.»
Sarah steckte die Nase wieder in ihr Buch, während Grace’ Blick zu Mitch schweifte, ein Blick, den er schon einmal gesehen hatte: Schmerz, Schuldbewusstsein und irgendetwas, das er nicht
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