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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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Unehrlichkeit bemerkt. Es gab nichts daran zu rütteln, dass sie hier eingedrungen war wie ein ungebetener Gast, doch Tugs Eltern waren schlicht zu höflich, darüber auch nur ein Wort zu verlieren. Schweigsame Kanadier.
    Ihr Herz zog sich zusammen; der Verlust, den sie zu ertragen hatten, wog so viel schwerer als ihr eigener. «Ich kannte Tug nicht sehr gut, und auch nicht sehr lange», sagte sie, während ihre Stimme wieder an Entschlossenheit gewann. «Wir waren bloß Freunde. Ich bin Therapeutin, und er hat mir ein wenig von seinen Problemen erzählt.»
    Joy saß mit gesenktem Kopf da, als erwarte sie eine Segnung oder einen Schlag ins Gesicht.
    Grace entschied sich für Ersteres. «Er hat viel von Ihnen gesprochen», sagte sie. «Auch von Marcie. Von ihnen allen. Davon, wie viel Sie ihm in all den Jahren gegeben haben. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil ihn das Schicksal daran gehindert hat, bei seiner Familie zu sein.»
    Seine Mutter schniefte.
    «Er hat Sie so sehr geliebt», fuhr Grace fort. «Das hat er mir oft gesagt.»
    Beide schwiegen, und Grace fragte sich einen Moment, ob sie je wieder sprechen würden. Sie stand auf, doch dann erhob sich auch Joy und schlang unvermittelt die Arme um sie. Sie war klein und zerbrechlich, und Grace kam es vor, als würde sie von einem kranken Kind umarmt.
    Grace vergrub ihr Gesicht in Joys grauem Haar. «Es tut mir so leid, dass ich ihm nicht helfen konnte», sagte sie mit tränenerstickter Stimme.
    Sie legte Joy die Arme um die Schultern, eine zaghafte, zurückhaltende Geste. Um sie zu trösten, hatte sie gelogen, und sie bereute es nicht. Bei aller Trauer fühlte sie sich Joy näher, als sie sich Tug je gefühlt hatte, Tug mit all seinen Lügen. Die Vorstellung, er könnte weiterleben, überleben, sein Glück finden, war die größte Lüge von allen; nicht weil sie so grotesk oder abwegig gewesen wäre, sondern weil sie so nahelag – und er sie um ein Haar verwirklicht hätte.

    Als sie ein paar Minuten später das Haus verließ, hatte es aufgehört zu regnen; der Himmel war perlmuttgrau. In den Händen hielt sie eine Schachtel mit Keksen, die Joy ihr aufgedrängt hatte – ein Andenken, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Als sie am Wagen stand, warf sie einen Blick zum Haus zurück. Die meisten Vorhänge waren zugezogen, doch im ersten Stock stand ein Fenster offen. Sie sah, wie Marcie im Schein einer Lampe nervös auf und ab ging.
    Grace fühlte sich so einsam wie nie zuvor. Sie hatte sich komplett isoliert in dem Miniatur-Universum, das sie und Tug geschaffen hatten. Über ihre verzweifelten Versuche, ihn zu retten, hatte sie fast vergessen, wie das Leben in der Wirklichkeit war, und nun, da er nicht mehr da war, kam es ihr vor, als würde sie aus einer Narkose erwachen.
    Während sie bei laufendem Motor und aufgedrehter Heizung hinterm Steuer saß, schauderte sie; nicht wegen der Kälte, sondern der unendlich vielen Möglichkeiten wegen, die das Leben für sie bereithielt. Sie würde ein Kind bekommen, von einem Mann, mit dem sie nur wenige Monate zusammen gewesen war. Trotz ihrerTrauer hatte sie das Gefühl, sich genau das immer schon gewünscht zu haben – nicht zu wissen, wohin ihr Weg sie führen würde. Sie sagte Tugs Familie stumm Lebewohl und fuhr davon in die Zukunft, ins Ungewisse.

12
Montreal, 2006
    Im Lauf des Herbsts verfiel Mitch bei seiner Arbeit wieder in einen vielleicht nicht entspannten, aber doch angenehm geordneten Rhythmus. Montags, mittwochs und freitags stand Gruppentherapie auf dem Programm, Dienstag und Donnerstag erledigte er den üblichen Bürokram und widmete sich einzelnen Patienten. Vor den Einzelsitzungen graute ihm am meisten. Er empfand die Eins-zu-eins-Situation als bedrohlich, wenn nicht sogar gefährlich: Blicke, die ihm auswichen oder ihn förmlich durchbohrten, sei es vor Schmerz oder Zorn. Es war nicht zum Aushalten. Um sich davor zu drücken, übernahm er freiwillig alle möglichen Verwaltungstätigkeiten, von Zuschuss- und Projektvergaben bis hin zur Analyse von Betriebsabläufen. Mittags schloss er die Tür seines Sprechzimmers, aß ein Sandwich, das er sich von zu Hause mitgebracht hatte, und hörte sich Sportsendungen im Radio an. Die Eishockeysaison hatte gerade begonnen, und er lauschte Prognosen und Analysen, den neuesten Informationen über Defensivpaarungen und Sturmreihen, Vereinswechsel, Wettskandale und Verletzungen. Manchmal machte er sich sogar Notizen, stellte sich sein eigenes Traumteam zusammen. Wenn

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