In einer anderen Haut
Kollegen klopften und hereinkamen, sahen sie ihn konzentriert über den Schreibtisch gebeugt, und er beließ sie in dem Glauben, dass er bis über beide Ohren in Arbeit steckte.
An einem Wochenende fuhr er wieder einmal nach Mississauga und besuchte Malcolm und seine Familie. Bei seinem Bruder und seiner Frau Cindy, die in einem Vorstadthäuschen wohnten, ging es immer drunter und drüber. Sie handhabten das Chaos, indem sie es ständig vergrößerten; sie hatten drei Kinder, zwei Katzen, einen Hund, Videospiele, Spielzeugklaviere und mehrere Fernseher. Zu allem Überfluss hatten sie sich nun auch noch ein Kaninchen angeschafft, das sich in seinem Käfig in eine leere Schachtel verkrochen hatte, während die Kinder es vergeblich herauszulocken versuchten – mit Karotten, Sellerie und, als sie sich gerade unbeobachtet fühlten, sogar mit einem Hamburger.
«Ich weiß, du magst Hamburger, aber Snowball schmecken sie nicht», erklärte Cindy geduldig ihrer schluchzenden Tochter, nachdem sie das Fleisch in den Müll geworfen hatte. «Er steht da einfach nicht drauf.»
Malcolm lachte. «Wir haben Snowball aus der Schule», erzählte er Mitch. «Offenbar verträgt er das Neonlicht in den Klassenräumen nicht oder so, und wir haben ihn bei uns aufgenommen. Tja, so sind wir mal wieder vom Regen in die Traufe geraten.»
Einst ein spindeldürrer, nervöser Junge, war aus Malcolm ein gemütlicher, liebenswerter Mann mit Bäuchlein, Schnauzbart und beginnender Glatze geworden, der stets gute Laune verbreitete. Wenn ihm alles über den Kopf wuchs, konnte Mitch bei ihm und seiner Familie am besten entspannen. Wann immer er zu Besuch kam, fühlte er sich wie eine weitere Ergänzung des häuslichen Tohuwabohus, ein unauffälliges, aber dennoch liebevoll umsorgtes Wesen, von dem nicht viel erwartet wurde; in dieser Hinsicht glich er durchaus dem Kaninchen. Es machte ihm nichts aus, dass er auf der Couch schlafen musste oder ihn zuweilen morgens ein stechender Schmerz weckte, weil eine Transformers-Figur unter seinem Bein steckte, und es war auch nicht schlimm gewesen, als Emily, die jüngste der Rasselbande, sich einmal auf seine Hose übergeben hatte, als sie im Garten zu wild Fangen gespielt hatten. Die Kidsrauften mit ihm, bezogen ihn mit in ihre Spiele ein und ließen ihn in Ruhe, wenn er müde war. Im Haus seines Bruders herrschte ein einziges großes Kuddelmuddel, aber hier konnte er sich fallen lassen, manchmal sogar seine Probleme vergessen, besser als an jedem anderen Ort.
Er hatte keine Ahnung, wie es Malcolm gelungen war, ein so guter Vater zu werden, und ihm war auch nicht klar, wie er und Cindy es hinbekamen, immer noch über die Witze des anderen zu lachen und sich liebevoll zu kabbeln, wer mit Kochen an der Reihe war oder den Abwasch übernehmen sollte. Malcolm war kein besonders erfolgreicher Ingenieur; er riss sich beruflich kein Bein aus und war seit Jahren nicht mehr befördert worden. Seine Kochkünste hielten sich ebenfalls stark in Grenzen, und als brillanten Unterhalter konnte man ihn auch nicht bezeichnen. Cindy beschwerte sich, dass er chaotisch war, keinen Nagel gerade in die Wand hämmern und auch mit Geld nicht umgehen konnte. Er schaffte es noch nicht einmal, auf Mitch einzugehen und sich zu erkundigen, wie es eigentlich bei ihm lief. Sein einziges Talent – das sich seit seiner Kindheit wie ein roter Faden durch sein Leben zog – bestand darin, flexibel und großzügig zu sein, sich mit Hingabe seinen Lieben zu widmen, seiner Frau und seinen Kindern ebenso wie seinem Bruder, wenn er zu Besuch kam. Er besaß schlicht und einfach die Gabe, glücklich zu sein.
Es traf Mitch jedes Mal wieder wie ein Schock, wenn er sich nach all dem Trubel in seiner stillen Wohnung in Westmount wiederfand. Im Apartment unter ihm feierten seine Nachbarn, ein schwules Pärchen, eine Party; ausgelassenes Gelächter drang zu ihm herauf.
Die Zukunft, der er entgegensah, war eintönig und geräuschlos, hoffnungslos still. Die ganze Nacht tat er kein Auge zu, unfähig, die Totenstille auszublenden, die sich über sein Leben gesenkt hatte.
Und so war er allein, ganz auf sich gestellt. Es blieben ihm nur wenige Mittel, seine Einsamkeit zu bekämpfen: sein Job, seine wenigen Freunde und zunehmend Grace und Sarah. Der Oktober ging in den November über, und er griff ihnen weiter nach Kräften unter die Arme. Mittlerweile war Grace’ Gips abgenommen worden, und sie konnte wieder ohne Krücken laufen, auch wenn sie ab und zu
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