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Roman mit Kokain (German Edition)

Roman mit Kokain (German Edition)

Titel: Roman mit Kokain (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. Agejew
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Burkewitz hat abgelehnt.
    1
    Einmal, es war Anfang Oktober, war ich, Wadim Maslennikow (damals fünfzehn Jahre alt) frühmorgens ins Gymnasium gegangen und hatte den Umschlag mit dem Geld für das erste Halbjahr vergessen, den Mutter noch am Vorabend ins Esszimmer gelegt hatte. Ich erinnerte mich an diesen Umschlag erst wieder in der Straßenbahn, als die nadelförmig vorüberhuschenden Akazien und Zaunspitzen am Straßenrand durch die Beschleunigung in einen breiten Strom übergingen und das auf meinen Schultern lastende Gewicht meinen Rücken immer fester gegen eine vernickelte Haltestange presste. Meine Vergesslichkeit beunruhigte mich jedoch keineswegs. Das Geld konnte ich auch am nächsten Tag in die Schule mitbringen, zu Hause lag es sicher, denn außer Mutter lebte dort nur die Hausangestellte, meine alte Njanja Stepanida; sie war schon über zwanzig Jahre bei uns, und ihre einzige Schwäche, ja vielleicht auch Leidenschaft, war ihr Geflüster – unaufhörlich und schnalzend, als knackte sie Sonnenblumenkerne. Auf diese Weise führte sie mangels anderer Gesprächspartner endlose Selbstgespräche, gelegentlich auch Streitgespräche, die sie bisweilen mit lauten Ausrufen unterbrach, etwa «So, so !» oder «Das wär ja noch schöner !» oder «Da kannst du lange warten !».
    In der Schule war der Umschlag schnell wieder vergessen. An diesem Tag hatte ich meine Lektionen nicht gelernt, was übrigens keineswegs oft vorkam, und ich musste sie teils in der Pause nachholen, teils sogar, als der Lehrer bereits in der Klasse war, und dieser fiebrige Zustand gespannter Aufmerksamkeit, in dem man sich Dinge so leicht aneignen kann (und sie am nächsten Tag mit derselben Leichtigkeit wieder vergisst), war überaus nützlich, um sich alles Nebensächliche aus dem Gedächtnis zu rütteln.
    Als die große Pause begann, als wir alle angesichts des kalten, aber trockenen und sonnigen Wetters auf den Hof hinausgelassen wurden und ich Mutter auf dem unteren Treppenabsatz erblickte, erst da erinnerte ich mich an den Umschlag und verstand, dass sie es sich nicht hatte verkneifen können, ihn mir zu bringen. Mutter stand alleine da, etwas abseits, in ihrem kahl gewordenen Pelz, mit der lächerlichen Haube, unter der einige graue Härchen hervorstanden (sie war damals schon siebenundfünfzig Jahre alt), und spähte hilflos suchend und merklich besorgt – was ihre jämmerliche Erscheinung noch unterstrich – in die vorbeirennende Meute der Gymnasiasten, von denen einige sich lachend nach ihr umdrehten und miteinander tuschelten. Ich war schon dicht bei ihr und wollte unbemerkt vorübereilen, aber Mutter entdeckte mich und erstrahlte in einem zärtlichen, aber traurigen Lächeln; sie rief mich, und ich ging zu ihr, obwohl es mir vor den Kameraden schrecklich peinlich war. «Waditschka, mein Junge » , sagte sie mit altersdünner Stimme, streckte mir den Umschlag entgegen und berührte mit ihrer gelblichen kleinen Hand ängstlich, als fürchte sie, sich zu verbrennen, einen Knopf meines Mantels. «Junge, du hast das Geld vergessen, ich habe gedacht, bestimmt erschrickt er, also habe ich es dir gebracht .» Nachdem sie das gesagt hatte, schaute sie mich an, als bitte sie um ein Almosen, aber aus Wut über die peinliche Lage, in die sie mich gebracht hatte, zischte ich hasserfüllt, ihre einfältige Zärtlichkeit sei hier fehl am Platze, und wenn sie es schon nicht habe aushalten können und mir das Geld unbedingt habe bringen müssen, so solle sie es doch gefälligst auch selbst einzahlen gehen. Mutter stand still, hörte schweigend zu, senkte schuldbewusst und kummervoll ihre alten, gütigen Augen, während ich die schon leere Treppe hinunterlief, mühsam die Tür aufdrückte, die geräuschvoll den Wind einsog, und mich noch einmal nach ihr umsah – nicht weil sie mir irgendwie leidgetan hätte, sondern alleine in der Befürchtung, sie könne an diesem unpassenden Ort anfangen zu weinen. Mutter stand noch immer auf dem Treppenabsatz, hatte traurig ihren hässlichen Kopf geneigt und schaute mir nach. Als sie bemerkte, dass ich sie ansah, winkte sie mir mit der Hand, die den Umschlag hielt, so wie man es auf dem Bahnhof tut; diese Bewegung, so jugendlich und munter, offenbarte nur umso mehr, wie alt, abgerissen und erbärmlich sie war.
    Auf dem Hof kamen einige Kameraden zu mir; einer von ihnen fragte, wer denn diese Schießbudenfigur im Rock gewesen sei, mit der ich gerade gesprochen hätte. Fröhlich auflachend antwortete ich, es

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