In einer anderen Haut
deuten konnte. Es war, als lauschte sie einer inneren Stimme, Worten, die niemand außer ihr hören konnte.
Ein paar Minuten später, als sie keine Lust mehr zu lesen hatte, fragte Sarah, ob Mitch mit ihr spielen würde. Geschmeichelt kniete er sich zu ihr, doch sie schüttelte den Kopf und bedeutete ihm, mit in ihr Zimmer zu kommen. Die Hand in seiner, führte sie ihn herumund zeigte ihm alles: ihre Puppen, ihre Schulbücher, ihre Sommerkleidchen, ihre Wintersachen, eine Reihe von Muscheln, die sie vom letzten Urlaub auf Prince Edward Island mitgebracht hatte, und ihre Sammlung von Haarspangen, an der sie schon «ihr gesamtes Leben» arbeiten würde, wie sie ihm mit ernster Miene erklärte. Dann drückte sie ihm ihr Sparschwein in die Hand und fragte, ob er schätzen könne, wie viel es wiegen würde.
«Ganz schön schwer», sagte er. «Bestimmt mehr als zwei Kilo.»
«Da ist ganz viel Geld drin», erwiderte sie lässig. «Das habe ich für besondere Gelegenheiten gespart.»
«Das ist aber klug von dir.»
«Ich bin schon ziemlich erwachsen für mein Alter», erklärte sie. «Das hat meine Lehrerin nämlich zu Grace gesagt. Ich habe heimlich mitgehört.»
Es war ihm klar, dass sie ihre Mutter bewusst beim Vornamen nannte, um besonders erwachsen zu wirken. Flirtete die Kleine etwa mit ihm? Natürlich fühlte er sich alles andere als wohl dabei. Seine Nichte Emily war eine echte Range, und seine Neffen, die sich ausschließlich für Eishockey und Wrestling begeisterten, konnte man nur als üble kleine Raufbolde bezeichnen. Bei ihnen reichte es schon, einen kurzen Schlag in die Magengrube anzutäuschen, um den Ball ins Rollen zu bringen. Es war jedes Mal, als würde er sich mit ein paar Hundewelpen balgen, jede Menge Gelächter, ein einziges Tohuwabohu. Doch Sarah war ein völlig anderes Geschöpf.
«Hier», sagte sie. «Schau dir das mal an.»
Auf den Zehenspitzen balancierend, zog sie einen Schuhkarton von einem Regal und setzte sich damit aufs Bett. Er nahm neben ihr Platz, während sie den Karton mit einer feierlichen Geste öffnete, die keinen Zweifel daran ließ, dass es sich um ihren wertvollsten Besitz handelte.
«Was ist das denn?»
«Das», flüsterte sie, «sind die besonderen Gelegenheiten.»
Im ersten Moment konnte er nicht genau erkennen, was sich inder Schachtel befand – allerlei Krimskrams, Papiertütchen und kleine, verschrumpelte Knollen, die in Papiertaschentücher eingeschlagen waren.
Sie nahm die Sachen nacheinander heraus und legte sie in seine Handfläche. «Das sind Vergissmeinnicht-Samen. Und die hier sind für Gänseblümchen. Das ist eine Tulpenzwiebel. Das ist eine Iris. Das eine Freesie. Und das hier ist eine Clematis.»
«Du hast ja einen ganzen Garten hier drin.»
«Nein. Das sind bloß Samen und Zwiebeln», korrigierte sie ungeduldig. «Ich spare mein Taschengeld und bestelle sie aus dem Katalog. Und nächstes Frühjahr pflanzen wir sie draußen im Garten. Eigentlich wollten wir das letztes Jahr schon tun, aber damals hatte ich noch nicht genug Geld zusammen. Aber seit meinem Geburtstag habe ich genug. Und in meinem Sparschwein ist sogar noch mehr, sodass wir im Sommer Pflanzen im Gartencenter kaufen können.»
Sie stellte ihm die Schachtel auf den Schoß, und er legte Tütchen und Zwiebeln vorsichtig wieder hinein.
Dann sprang sie vom Bett und schlug ein Fotoalbum auf. «So wird er aussehen», sagte sie halblaut. «Der geheime Garten.»
Es waren keine Fotos darin, sondern nur Bilder, die sie aus Zeitschriften ausgeschnitten hatte, Zeichnungen auf Tonpapier, Collagen und Ausrisse aus Saatgut-Katalogen. Jede einzelne Seite war ein Feuerwerk aus Rosa, Gelb und Violett. Die Namen kannte sie alle auswendig – die Gänseblümchen wollte sie neben die Iris und die Narzissen pflanzen. Sie habe den Garten in ihrer Fantasie schon tausend Mal angelegt, erklärte sie ihm, während sie in dem Album blätterte.
«Seit wann interessierst du dich so für Blumen?», fragte er.
Sie legte den Kopf schief und schien zu überlegen, wie sie seine Frage beantworten sollte, ging dann jedoch wortlos darüber hinweg. Nachdem sie ihm das ganze Album gezeigt hatte, legte sie es beiseite, nahm den Schuhkarton wieder an sich und stellte ihn sorgfältig ins Regal zurück.
Dann kam sie zum Bett zurück und kauerte sich mit einem Kissen im Schoß an die Wand. «Die Geschichte geht so», sagte sie. «Da ist ein Mädchen, und als ihre Eltern sterben, zieht sie in das große Haus, das ihrem Onkel
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