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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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einen langen Seufzer von sich und warf einen Blick auf seine Uhr. «Es geht also um einen Ehestreit?»
    Grace nickte.
    «Tja, da ist wohl einiges aus dem Ruder gelaufen», sagte Tugwell.
    Der Arzt zuckte mit den Schultern, als wäre ihm schon weit Merkwürdigeres untergekommen, zückte seinen Kugelschreiber und notierte etwas auf seinem Klemmbrett.
    «Ich kümmere mich um ihn», sagte Grace.
    Der Arzt verließ das Zimmer, zu beschäftigt, um darauf einzugehen.
    Als sie wieder allein waren, sah Tugwell sie abermals an. Der Funke in seinen Augen war verloschen, als hätte ihm seine kleine Lügengeschichte die letzte Kraft geraubt. «Haben Sie nichts Besseres zu tun?»
    «Hier geht’s nicht um mich», erwiderte sie.
    «Ausweichpalaver.»
    «Pardon?»
    «Tut mir leid, ich meinte Ausweichmanöver. Ich bin immer noch groggy.»
    «Ich bin Ihnen nicht ausgewichen», sagte sie, obwohl sie genau das getan hatte. «Es spielt nur keine große Rolle.
Ich
spiele hier keinegroße Rolle, jedenfalls nicht für Sie. Sie sind verletzt, und ich fahre Sie gern nach Hause, wenn Sie wollen. Oder soll das lieber jemand anders übernehmen?»
    Er schloss die Augen.
    «Soll ich Ihnen beim Anziehen helfen, John?»
    «Nein», erwiderte er. «Und nennen Sie mich Tug.»
    «Okay, Tug», sagte sie. «Ich warte draußen. Rufen Sie einfach, wenn Sie mich brauchen.»
    Als sie fünf Minuten später wieder hereinkam, trug er seine graue Fleecejacke und seine schwarze Skihose; den Reißverschluss des einen Beins hatte er offen gelassen und den Stoff über den Spezialstiefel gekrempelt. In einem Rollstuhl fuhr sie ihn zum Parkplatz, half ihm in ihren Wagen und verstaute die Krücken auf dem Rücksitz. Als sie sich hinters Steuer gesetzt hatte, drehte sie die Heizung auf, während er den Kopf zurücklehnte und schwieg. Sie fragte sich, wo seine Familie war. Er trug keinen Ehering. Falls er nicht wollte, dass sie sich um ihn kümmerte, leistete er jedenfalls keine große Gegenwehr – aber schließlich wusste sie nicht, was in ihm vorging. Vielleicht wartete er nur darauf, dass sie ihn endlich in Ruhe ließ, damit er es erneut versuchen konnte. Die Fälle, die zunächst einlenkten, waren oft auch diejenigen, die ihren Plan bis zum bitteren Ende durchzogen, sobald man sie allein gelassen hatte.
    «Leben Sie allein?»
    «Ja. Und Sie?»
    «Ebenfalls.»
    «Nicht verheiratet?»
    «Geschieden.»
    «Ich auch», sagte er. «Nun ja, in Trennung lebend. Nichts Offizielles.»
    «Das tut mir leid», sagte sie. «Wollten Sie sich deshalb umbringen?»
    Eine kleine Pause entstand, ehe er antwortete. «Sie reden ja nicht lange um den heißen Brei herum.»
    «Dafür gibt es auch keinen Anlass», erwiderte sie.
    Er sah aus dem Fenster, und schließlich begriff sie, dass er ihr nicht antworten wollte, was aber auch kein Problem war. Dann aber wandte er sich wieder zu ihr. «Sie haben gesagt, Sie wären Therapeutin?»
    «Ja. Meine Praxis ist in Côte-des-Neiges. Grace Tomlinson. Kommen Sie vorbei, wann Sie wollen, oder rufen Sie mich an. Ich stehe im Telefonbuch.»
    «Und so kriegen Sie neue Klienten? Indem Sie beim Langlaufen nach Depressiven suchen?»
    «Genau», erwiderte Grace fröhlich. In ihrem Beruf hatte sie gelernt, immer ruhig zu bleiben. «Aber die Ausbeute war ziemlich mau, bevor Sie aufgetaucht sind. Sagen Sie mir, wie ich fahren muss?»
    Er nickte. Sie folgten dem Saint-Laurent-Boulevard in nördlicher Richtung, fuhren durch Little Italy und kamen schließlich in ein Viertel, in dem die meisten Ladenfronten vietnamesische Schriftzeichen trugen. Er bedeutete ihr, in eine dunklere Seitenstraße abzubiegen, die von dreistöckigen Häusern gesäumt war, auf deren Außentreppen Schnee lag. Schließlich bat er sie, vor einem gelben Backsteingebäude zu halten. In allen Etagen brannte Licht.
    Niemand lässt das Licht an, wenn er nicht zurückkommen will, dachte sie. «Wartet jemand auf Sie, Tug?»
    «Sie lassen nicht locker, was?», gab er zurück.
    «Ja. Sie haben gesagt, Sie würden allein leben. Warum haben Sie dann das Licht nicht ausgemacht?»
    Er seufzte und rieb sich die Augen. Schließlich erwiderte er: «Ich habe das Licht für den Hund angelassen.»
    «Sie haben einen Hund?»
    Er schüttelte den Kopf. «Er gehört meiner Exfrau. Meiner Frau. Wie auch immer wir jetzt zueinander stehen, es ist ihr Hund. Aber sie ist gerade außerhalb unterwegs, daher kümmere ich mich um ihn. Das passiert öfter. Sie holt ihn später wieder ab. Ihm geht’s gut.Er hat sein

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