In einer anderen Haut
Zukunft, in der sich all ihre Wünsche erfüllt hatten, darüber, was sie als Teenager durchgemacht und wie sie all das überlebt hatte. Annie maulte, sie habe schon genug mit ihren Hausaufgaben zu tun, doch Grace wusste, dass sie gern Aufgaben übernahm, die sie tatsächlich erledigen konnte, im Gegensatz zu der ungleich größeren Aufgabe, die sie sich jeden Tag aufs Neue stellte – nämlich schön, smart, unangreifbar und perfekt zu sein.
Grace empfand für Annie jene besondere Form von Mitleid, die jemand mit einer glücklichen Kindheit für einen Menschen empfindet, der keine hatte. Sie selbst, ein Einzelkind, war in einer Welt aufgewachsen, die sie mit ihrer eigenen Phantasie angereichert hatte. Drei Jahre lang hatte sie einen imaginären Freund namens Rollo Hartin gehabt. Ihre immer verständnisvollen Eltern hatten sogar den Esstisch für Rollo mitgedeckt und ihr Bett mit einem Extrakissen für ihn ausstaffiert. Grace war eins von jenen Kindern, die verletzte Vögel mit nach Hause bringen und sie gesund zu pflegen versuchen. Wenn sie in der Nachbarschaft eine Katze sah, nahm sie das Tier mit, um ihm ein Schälchen Milch zu geben. Stunden oder Tage später tauchten dann die verärgerten Besitzer auf, um ihre Katzen wieder mitzunehmen.
Sie hatten in einer grünen Vorortsiedlung von Toronto gelebt. Ihre Eltern waren glücklich verheiratet. Beide Ärzte, hatten sie sich auf ideale Weise ergänzt. Jeden Abend um fünf waren sie nach Hause gekommen, hatten eine Flasche Weißwein aufgemacht und eine halbe Stunde über ihren Tag gesprochen, ganz unter sich in ihrer Zweisamkeit. Sie waren der festen Überzeugung, dass die Basis einer Familie in einer starken Ehe bestand – so wie Grace als Erwachsene auch –, doch irgendwie vermittelte ihr gerade die Stärke ihrer Ehe, ihre betonte Eintracht manchmal den Eindruck, dass sie das fünfte Rad am Wagen war. Als sie an der Universität von Toronto zu studieren begonnen hatte, waren ihre Eltern in den Ruhestand gegangen, hatten das Haus verkauft und waren auf eine Insel vor der Küste von British Columbia gezogen, wo ihr Vater an einem Roman schrieb, ihre Mutter töpferte und beide immer noch jeden Tag um fünf ihr Weißwein-Ritual zelebrierten.
Grace hatte ihr Leben mit dem Versuch verbracht, die perfekte Welt ihrer Eltern für sich selbst zu erschaffen. Dass alles immer so selbstverständlich ausgesehen hatte, machte die Sache nicht einfacher. Die scheinbare Mühelosigkeit, mit der sie sich miteinander arrangierten, war ihr ein Rätsel. Anscheinend waren ihre Eltern die glücklichsten Menschen auf der ganzen Welt.
An der Universität hatte sie Mitch Mitchell kennengelernt. Eigentlich hieß er Francis, aber mit diesem Vornamen konnte er nichts anfangen. Als sie mit dem Hauptstudium begann, saß er an seiner Promotion in klinischer Psychologie und arbeitete als wissenschaftlicher Assistent an der Uni. Eigentlich hatte sie Literatur studieren wollen, weil sie schon immer gern die Motivationen von Romanfiguren analysiert hatte, aber dann hatte sich herausgestellt, dass die echte Psychologie doch Handfesteres zu bieten hatte. Es faszinierte sie, zu den Wurzeln menschlichen Verhaltens vorzudringen, sich mit den Schwächen und Widersprüchen der Seele zu beschäftigen. Sie verliebte sich gleichzeitig in ihr Fach und Mitch, und später war sie sich nicht immer sicher, ob sie beides tatsächlichauseinandergehalten hatte. Nach ihrer Hochzeit folgte sie ihm nach Montreal, wo er an einer Klinik untergekommen war, und begann selbst mit ihrer Doktorarbeit.
Die ersten paar Jahre vergingen in Windeseile. Sie hatten jede Menge zu tun. An den Wochenenden unternahmen sie Wandertouren in den Laurentians oder gingen in der Stadt essen; Grace staunte jedes Mal, wie die Leute Tag und Nacht vor Schwartz’s Hebrew Delicatessen Schlange standen. Mitchs Vorliebe für Fairmount-Bagels färbte auch auf sie ab: Sie aßen sie, noch ofenwarm, direkt aus der Verpackung, weil sie nicht warten wollten, bis sie zu Hause waren. Ab und zu besuchten sie seine gebrechliche Mutter, die allein in Lachine lebte. Grace nahm Französischunterricht und arbeitete in einem Krankenhaus, wo sie Drogenabhängige beriet, Menschen, die mit einer Scheidung nicht fertig wurden, in der Schule oder im Job Probleme hatten oder schlicht morgens nicht aus dem Bett kamen. Wenn Mitch und sie abends zusammensaßen, tranken sie Wein und redeten über alles Mögliche, nur nicht über ihre Arbeit, das dumpfe Gewicht all der
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