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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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Wie
nachlässig
ist das denn?»
    Dabei war Annie alles andere als das. Die Sorgfalt, auf die sie permanent bedacht war, lastete auf ihren Schultern, krümmte ihren Rücken, erdrückte sie.
    «Es würde sie bestimmt freuen, dass du dich ihr anvertraust», sagte Grace, obwohl sie genau wusste, dass Annies Einschätzung ihrer Mutter wohl ziemlich genau zutraf. Sosehr sie sich täuschte, was sie selbst anging – ihre Eltern nahm sie ausgesprochen realistisch wahr.
    «Wie kommen Sie denn auf die Idee?» Annie begann wieder zu weinen. «Das ist doch verrückt!»
    «Und dein Vater?»
    Die Tränen flossen ihr über die Wangen. «O Gott», sagte sie.
    Auch wenn Annie ihr leidtat, spürte Grace, wie sich ihr Puls beschleunigte. Es war das erste Mal, dass Annie sie um Hilfe, ja, überhaupt um
irgendetwas
gebeten hatte. Das Mädchen steckte in einer schweren Krise, an der sie zerbrechen, die aber auch eine echte Chance für sie bedeuten konnte.
    Grace ließ sie ein Weilchen weinen; ihre Schultern bebten bei jedem Schluchzer, bis sie sich schließlich wieder beruhigte. Annie schnäuzte sich zwei Mal geräuschvoll und zerknüllte das Taschentuch im Schoß. Schließlich sagte Grace: «Und wer ist der Junge?»
    Das Mädchen schüttelte den Kopf.
    «Er hat ja auch ein Wörtchen mitzureden», fuhr Grace fort. Sie musste Annie irgendwie entlocken, ob sie den Jungen gut oder bloß flüchtig kannte, ob sie ihn liebte, irgendetwas erfahren, das zu einem echten Gespräch führen konnte.
    Doch Annie schüttelte abermals den Kopf und lächelte schief. «Niemand», sagte sie in mattem, seltsam vernünftigem Tonfall. Siewar ein Chamäleon: Eben hatte sie in ihrer Schuluniform weinend und flehend noch wie ein Kind gewirkt; nun, während sie die Beine übereinanderschlug und geheimnisvoll lächelte, hätte sie genauso gut fünf Jahre älter sein können. Grace spürte, wie sie sich in ihrem Schneckenhaus verkroch, sah, wie sich ihr Gesicht in eine Maske verwandelte. Während der nächsten Minuten beschränkte sie sich also darauf, dem Mädchen kurz und bündig auseinanderzusetzen, welche Optionen sie hatte und was sie für ihre Zukunft bedeuteten. Sie riet ihr eindringlich, sich ihre Entscheidung gut zu überlegen, einen Arzt aufzusuchen, kühlen Kopf zu bewahren und sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass davon die Welt nicht unterging, egal, was auch geschehen mochte.
    Annie nickte und tat so, als würde sie zuhören, doch als Grace innehielt, sagte sie: «Ich kann mit meiner Frauenärztin nicht darüber reden. Sie ist mit meiner Mutter befreundet und steckt ihr garantiert, was passiert ist. Und meinen Freundinnen kann ich auch nicht vertrauen – das sind alles totale Quatschtanten, und übermorgen weiß es die ganze Schule. Sie sind die Einzige, mit der ich reden kann.»
    «Freut mich, dass du mir vertraust, Annie.»
    Die Gelegenheit ließ sich das Mädchen nicht entgehen. Sie beugte sich vor und sah Grace mit großen Augen an – dieselbe Körperhaltung, die sie wohl auch zu Hause einnahm, wenn sie etwas Besonderes erreichen wollte.
    «Versprechen Sie mir, dass Sie meinen Eltern nichts erzählen?»
    Grace lehnte sich zurück. Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen wurde sie nun in etwas hineingezogen, womit sie eigentlich nichts zu tun hatte. Und erneut verspürte sie den Drang, das Risiko einzugehen, sich das Vertrauen eines Menschen zu verdienen, der ihrer Hilfe bedurfte, da offenbar niemand sonst helfen konnte. Doch diesmal handelte es sich um ein Kind. «Das kann ich nicht», erwiderte sie.
    «Ich hätte es wissen müssen», sagte Annie. «Das ist alles Zeitverschwendung.»Sie stand auf, stopfte ihre Sachen in ihre Tasche und zog geräuschvoll den Reißverschluss ihrer Jacke hoch.
    «Warte», sagte Grace, darauf bedacht, die Sitzung mit einer positiven Note zu beenden. «Denk an die Alternativen, die du hast.»
    Als Annie sich zu ihr umwandte, war ihr Gesicht weiß wie Schnee; alles, was sie von sich preisgegeben hatte, war nun hinter einer ungläubigen Maske verborgen. Nur die rosa Flecken um Auge und Nase erinnerten noch an ihre Gefühlsausbrüche in der vergangenen Stunde. «Klar», sagte sie. «Alternativen.»
    Plötzlich wurde Grace mit schmerzlicher Schärfe bewusst, dass das Mädchen nie wiederkommen, sich wohl nie wieder jemandem öffnen würde, wenn sie jetzt nicht handelte. Es war nicht das erste Mal, dass sie mit einem Teenager zu tun hatte, der in Schwierigkeiten steckte, doch Annie war es gelungen, sie innerlich

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