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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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hässliches, plumpes Mädchen, das pausenlos versagte und zu Recht von allen links liegen gelassen wurde. Sie war felsenfest überzeugt von ihren Defiziten, und nichts, was Grace ihr bislang gesagt hatte, konnte ihre Sicht der Dinge erschüttern.
    Eines Tages hatte ihre Mutter sie schlafend auf dem Sofa vorgefunden. Ein Knopf an ihrer Bluse war aufgegangen und hatte denBlick auf ihren Bauch freigegeben. Im ersten Moment dachte ihre Mutter, sie hätte einen Ausschlag, doch auf den zweiten Blick entdeckte sie ein komplexes Muster von Schnitten – die Linien überkreuzten sich und formten ein Gebilde, das wie ein Stern aussah.
    Ergo: Therapie.
    Nach Schulschluss hatte Annie einen Termin nach dem anderen: Zahnarzt, Friseur, Hautarzt. Sie wurde von einer Truppe von Profis versorgt und bedient, und Grace war nur der jüngste Neuzugang. Bis jetzt hatten sie kaum Fortschritte gemacht. Das Mädchen war höflich, tat, was sie ihr sagte, und beantwortete ihre Fragen relativ ausführlich, ohne dabei besonders viel von sich preiszugeben. Ihre Eltern glaubten, dass sie inzwischen mit dem Ritzen aufgehört hatte. Grace glaubte es nicht.
    Heute aber war es anders als sonst. Sie trug ein Kapuzenshirt mit Reißverschluss über ihrer Schuluniform; die langen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Normalerweise saß sie mit übereinandergeschlagenen Beinen da und starrte zu Boden, während Grace versuchte, das Gespräch in Gang zu bringen. Diesmal aber hielt sie ihr sofort ihre «Hausaufgaben» hin.
    Grace nahm das Blatt Papier entgegen und sagte: «Warum erzählst du mir nicht einfach, was du aufgeschrieben hast?»
    Annie schüttelte den Kopf. «Bitte nicht», erwiderte sie. «Hören Sie, ich habe gemacht, was Sie wollten. Sie können es lesen, okay?»
    «Du solltest das nicht für mich tun. Sondern für dich. Damit du über dich selbst nachdenkst und wir eine Gesprächsbasis haben.»
    Annie antwortete nicht, sondern sah sie nur mit ihren riesigen Augen an. Ihre Gesichtszüge hatten etwas Verspieltes, Unfertiges an sich, wirkten so weich, als wären ihre Knochen noch nicht richtig ausgebildet. Ihre Hände spielten nervös mit den Falten ihres marineblauen Rocks. Sie hatte lange, perfekte Fingernägel – die Maniküre machte sie immer zusammen mit ihrer Mutter. Während Grace sie musterte, hob Annie die Hand, drückte an einem Pickel an ihrem Kinn herum, hörte kurz wieder auf und fing dannerneut damit an. Ihren Gesichtsausdruck konnte man nur flehentlich nennen.
    Grace wartete eine Minute, in der Hoffnung, dass sie aufgeben würde, lenkte schließlich aber ein. «Na schön», sagte sie. «Dann lese ich den Brief jetzt laut vor, und …»
    «Nein!», sagte Annie. «Bitte!»
    «Okay. Dann lese ich ihn für mich, und danach reden wir darüber. Aber du musst mir versprechen, dass du mir nicht weiter ausweichst. Einverstanden?»
    Das Mädchen nickte und sah zu Boden. Grace warf einen Blick auf das Blatt Papier. Der Brief war extrem kurz, die Handschrift seltsam androgyn: schräg, eckig, alles andere als das übliche ornamentale Mädchengeschreibsel.
    Ein Brief an mich heute von mir mit 24, von Annie Hardwick.
    Tut mir leid, aber ich konnte mich nicht auf die Aufgabe konzentrieren. Ich glaube, ich bin schwanger
.
    Grace sah auf. Das Mädchen weinte, den Kopf zur Seite gewandt, als würde sie dadurch unsichtbar. Sie schniefte.
    Grace hielt ihr eine Schachtel mit Papiertüchern hin. «Hier, putz dir die Nase.» Dann fuhr sie fort: «Wissen deine Eltern davon?»
    Annie schüttelte den Kopf.
    «Hast du einen Schwangerschaftstest gemacht?»
    Sie nickte.
    «Wie lange bist du schon überfällig? Wann hattest du deine letzte Periode?»
    «Ich hätte sie schon vor fast einem Monat kriegen müssen», platzte Annie heraus. «Sie müssen mir helfen.»
    «Natürlich helfe ich dir», erwiderte Grace ruhig. Sofort hellte sich Annies Miene auf, verdüsterte sich aber wieder, als Grace hinzufügte: «Keine Angst, wir sprechen zusammen mit deinen Eltern.»
    «Sind Sie noch ganz dicht?», fragte Annie. In so einem Ton hatte sie noch nie gesprochen. Sie hatte aufgehört zu weinen, und ihr Gesicht war rot und verquollen. «Meine Mutter hat heute Morgenschon einen Anfall bekommen, weil ich einen eingerissenen Nagel habe. ‹Annie, ich bezahle keine 20-Dollar-Maniküre, wenn du nicht auf deine Nägel achtest. Warum bist du so nachlässig?› Haben Sie eine Ahnung, was sie sagt, wenn herauskommt, dass ich einen Fötus in mir habe?

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