In eisige Höhen
plötzlich, ging mein Atem immer schwerer. Ich sah nur noch verschwommen und mir wurde schwindlig. Ich war nahe dran, bewußtlos zu werden.
Anstatt meinen Sauerstoff abzuschalten, hatte Harris in seinem vom Sauerstoffmangel beeinträchtigten Zustand den Hahn irrtümlicherweise voll aufgedreht. Die Flasche war leer. Ich hatte gerade den letzten Sauerstoff verschwendet, ohne auch nur einen Meter voranzukommen. Am Südgipfel, etwa siebzig Meter weiter unten, wartete eine weitere Flasche auf mich. Aber um dorthin zu gelangen, mußte ich genau den schwierigsten, ungeschütztesten Abschnitt der Route überwinden, und das ohne zusätzlichen Sauerstoff.
Und zuerst mußte ich warten, bis sich dieser Pulk unter mir aufgelöst hatte. Ich nahm meine mittlerweile nutzlose Maske ab, schlug meinen Eispickel in das gefrorene Fell des Berges und hockte mich auf den Kamm. Ich tauschte mit den der Reihe nach vorbeikletternden Bergsteigern banale Glückwünsche aus, während ich innerlich völlig verzweifelt war. »Nun macht schon, macht!« flehte ich stumm. »Während ihr Typen hier lustig vor euch hin kraxelt, verliere ich Millionen und Abermillionen von Gehirnzellen!«
Die meisten Leute gehörten Fischers Team an, aber am Ende des Aufmarsches tauchten schließlich zwei meiner Teamgefährten auf, Rob Hall und Yasuko Namba. Die siebenundvierzigjährige Namba, ernst und zurückhaltend, trennten nur noch vierzig Minuten davon, die älteste Frau der Welt, die je den Everest bestiegen hatte, zu werden. Und die zweite Japanerin, die auf den höchsten Gipfeln aller Kontinente gestanden hatte, den sogenannten Großen Sieben. Sie wog gerade mal fünfundvierzig Kilo, aber hinter ihrer spatzenhaften Erscheinung verbarg sich eine ungeheure Entschlossenheit. Yasuko war von dem höchst erstaunlichen Maß und der unerschütterlichen Intensität ihrer Sehnsucht den Berg hochgetrieben worden.
Noch später kam Doug Hansen oben an der Hillary-Stufe an. Doug, ein Postbeamter aus einer Vorstadt von Seattle, gehörte ebenfalls zu unserem Troß und war zu meinem engsten Freund auf dem Berg geworden. »Wir haben's geschafft!« rief ich ihm gegen den Wind zu und versuchte dabei fröhlicher zu klingen, als mir zumute war. Doug murmelte hinter seiner Sauerstoffmaske völlig erschöpft etwas, das ich nicht verstand, schüttelte mir die Hand und schleppte sich weiter nach oben.
Ganz am Ende der Schlange tauchte Scott Fischer auf, den ich flüchtig aus Seattle kannte, wo wir beide wohnten. Fischers Kraft und Elan waren geradezu legendär – 1994 bestieg er den Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff –, ich war erstaunt, wie langsam er sich fortbewegte und wie abgekämpft er wirkte, als er seine Maske abnahm, um hallo zu sagen. »Bruuuuuce!« keuchte er mit gezwungener Fröhlichkeit, mit dem für ihn typischen, jungenhaften Begrüßungsritual. Auf meine Frage, wie es denn so liefe, betonte er, daß er sich okay fühlte: »Nur ein bißchen schlapp heute. Hat aber nichts zu sagen.« Als die Hillary-Stufe schließlich frei war, hakte ich mich in das geflochtene, orangefarbene Seil ein, schwang mich mit einer raschen Bewegung um Fischer herum, der sich mit gebeugtem Haupt an seinem Eispickel abstützte, und seilte mich über den Felsrand ab.
Als ich unten am Südgipfel ankam, war es nach drei Uhr. Über dem 8516 Meter hohen Gipfel des Lhotse wehten nun bereits Nebelschwaden, die bis zur Gipfelpyramide des Everest vordrangen. Die Wettergötter waren uns offenbar nicht mehr gewogen. Ich schnappte mir eine frische Sauerstoff-Flasche, klemmte sie an meinen Regler und eilte hinunter in die sich zusehends zusammenziehende Wolkendecke. Wenige Augenblicke nachdem ich vom Südgipfel gestiegen war, fing es an zu schneien, und die Sicht ging zum Teufel.
Vierhundert Höhenmeter über mir, wo der Gipfel immer noch unter einem makellosen kobaltblauen Himmel in strahlendem Sonnenlicht glänzte, trödelten und scherzten meine Kameraden herum, um ihre Ankunft auf dem Scheitel des Planeten zu feiern. Sie entrollten Flaggen, machten Fotos und ließen dabei wertvolle Zeit verstreichen. Keiner von ihnen hatte auch nur die leiseste Ahnung, daß ein unvorstellbares Martyrium nahte. Keiner ahnte, daß am Ende jenes langen Tages jede Minute zählen würde.
KAPITEL ZWEI
Dehra Dun 1852
681 Meter
Im Winter, weit entfernt von den Bergen, entdeckte ich in Richard Halliburtons
Book of Marvels
das unscharfe Foto des Everest. Es handelte sich um einen elendig schlechten Nachdruck, in dem
Weitere Kostenlose Bücher