In eisigen Kerkern (German Edition)
die Polizei zu rufen.“
„Ich rede gleich mal mit ihr.“
„Darum geht es nicht.“
„Worum dann?“
„Ich kann mir erstens nicht vorstellen, dass ihr überhaupt keine Verbindung ins Tal habt. Und zweitens...“
Sie erreichten den Hintereingang.
„Würdest du bitte mal?“
Sie hielt ihm die Tür auf.
„Und zweitens hab ich in der Garage oder Werkstatt oder was das ist ein Fahrrad gesehen, das aussieht wie meines.“
„Ich verstehe nicht ganz.“
Durch einen kreuz und quer mit Kartons, Flaschen, Kästen und Dosen vollgestellten Gang erreichten sie die Küche. Nelli hielt wieder die Tür auf.
„Ich dachte“, keuchte er, „du hattest einen Unfall.“
„Ja, einen Fahrradunfall.“
„Da legst di nieder!“
In der Tür zur Gaststube stand die Bedienung und starrte Nelli und Andi mit einer Mischung aus Empörung und Verständnislosigkeit an.
„Schon gut, Gerda, die ist in Ordnung. Wir kennen uns von früher, alles klar?“
„Ah, so is des.“
Nicht gerade weniger finster glotzend, aber offenbar beruhigt, trollte sich Gerda nach vorne in die Wirtsstube.
„Wir kennen uns von früher?“, fragte Nelli.
„Sonst hätte sie keine Ruhe gegeben. Du musst ja ganz schön mit ihr aneinander geraten sein.“
Er grinste, und Nelli konnte nicht anders als zu lächeln.
„Weißt du, das Ordnungsamt schaut zwar eher selten hier oben bei uns vorbei, aber du solltest trotzdem nicht in der Küche sein.“
„Schon klar. Aber...“
„Pass auf, ich mach dir einen Vorschlag: Den ersten Brotzeitteller bekommst du, und sobald die Klasse draußen ist, schauen wir nach deinem Fahrrad. Ist das ein Wort?“
Nelli nickte lächelnd.
„Alles klar.“
Sie ging zur Schwenktür und bekam sie fast auf die Nase, als Gerda hereinstürmte.
„Noch vier Kasteller mehr, der Bautrupp is kemma.“
Nelli schob sich an ihr vorbei zum Thekenbereich und ging in die Gaststube. Sofort zuckten alle Blicke zu ihr. Das Kindergeschrei verstummte zu einem vielstimmigen Tuscheln. Nelli tat so, als sei nichts gewesen, und suchte sich einen Platz ganz hinten auf der Eckbank. Einige Schüler rückten fluchtartig zusammen. Nelli sah dem Lehrer an, dass er nicht recht wusste, wie sich nun verhalten.
Pfeif drauf, sollten sie doch denken, was sie wollten.
Jetzt hatte sie richtig Hunger. Sie wollte nur essen und dann ihr Fahrrad zurückhaben. Nachsehen, ob noch alle ihre Sachen da waren, vor allem ihr Tagebuch. Und dann nichts wie weg hier.
„...schauen wir nach deinem Fahrrad...“, hatte Andi gesagt. War das in der Garage also tatsächlich ihres? Oder hatte er gemeint, er würde ihr suchen helfen?
Nelli fielen die Bilder ein. Vorhin hatte sie die gerahmten Schwarz-Weiß-Fotografien hinter der Familien hängen sehen, jetzt saß sie selbst schräg darunter.
Sie stand auf und betrachtete die Bilder.
Es handelte sich um ein und dasselbe Motiv, vom selben Standort nur zu unterschiedlichen Zeiten aufgenommen. 1910 stand unter der linken Fotografie, 2010 unter der rechten. Zu erkennen war ein Gebirgsmassiv, das ihr bekannt vorkam. Wahrscheinlich hatte sie es vom Pass aus in einem anderen Blickwinkel gesehen.
Unter dem Gebirgsmassiv erstreckte sich auf dem linken Bild ein ungeheurer Gletscher. Schwer zu schätzen, aber er mochte mindestens 100 Meter breit gewesen sein. Auf dem rechten Foto war er zu einem Rinnsal zusammengeschmolzen, und die ehemalige Ausbreitungszone glich einer trüben Kiesgrube.
„Inzwischen wäre aus diesem Blickwinkel gar nichts mehr zu sehen“, hörte Nelli hinter sich eine Stimme. Sie fuhr herum.
„Was?“
Andi stellte einen großen Teller mit Wurst- und Käsebroten auf ihren Platz und daneben eine Apfelschorle in einem Halbliter-Glas. Er deutete mit dem Kopf zu den Fotos.
„Der Gletscherschwund. Es geht von Jahr zu Jahr schneller.“
„Ach so. Dann ist er wohl bald ganz weg?“
„An dieser Stelle schon. Weiter oben, etwa auf unserer Höhe hier, ist er immer noch ziemlich eindrucksvoll. Solltest du dir mal ansehen.“
„Vielleicht, wenn ich mein Fahrrad wieder habe. Du hast gesagt, du schaust mit mir mal nach...“
„Später, Nelli, später.“
Er hatte sich schon von ihr abgewandt und stellte kleinere Teller mit belegten Broten vor gerümpften Schülernasen ab.
„Käse, ih“, nörgelte einer, „und nicht mal Brötchen. Warum gibt’s in dieser blöden Hütte keine Pommes?“
„Weil wir hier keinen Strom haben, klar“, sagte Andi, ohne den Schüler anzuschauen. Und schon war er am
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