In kalter Absicht
ging ins Haus.
Inger Johanne folgte ihm.
Karsten Åslis Gesicht war blau und aufgequollen und durch kreideweißes Bettzeug, Verbände und gurgelnde Maschinen, die ihn noch für einige Stunden am Leben erhielten, kaum zu erkennen. Aksel setzte sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer. Inger Johanne trat ans Fenster. Sie interessierte sich nicht für den Patienten. Sie sah nur Aksel Seier, als sie sich umdrehte, und sie dachte nur an ihn.
Du hast für deinen Sohn Buße getan, Aksel. Du hast für seine Sünden gebüßt. Ich hoffe, du kannst das auch so sehen.
Aksel Seier hatte den Kopf gesenkt und die Hände um Karstens rechte Hand gefaltet.
Die Decke wurde blau. Der Mann im Laden hatte behauptet, die dunkle Farbe werde das Zimmer kleiner wirken lassen. Doch das war ein Irrtum. Die Decke schien sich zu heben und fast zu verschwinden. So hatte ich es mir gewünscht, als ich noch klein war: ein Gewölbe aus nächtlicher Dunkelheit, mit Sternen und einer schmalen Mondsichel gleich über dem Fenster. Damals wurde die Entscheidung von meiner Großmutter getroffen. Von meiner Großmutter und meiner Mutter, ein Jungenzimmer in Gelb und Weiß.
Ich habe das Gefühl, daß jemand hier ist.
Jemand hält meine Hand. Mama ist das nicht. Sie hat es ab und zu gemacht, wenn sie abends zu mir kam, wenn Oma schon im Bett lag. Mama sagte so wenig. Andere Kinder wurden mit einer Geschichte in den Schlaf gewiegt. Ich schlief zum Klang meiner eigenen Stimme ein, immer. Mama sagte so wenig.
Glück ist etwas, an das ich mich nur vage erinnern kann, wie an eine leichte Berührung in einer fremden Menschenmenge, verflogen, ehe wir uns umdrehen können. Als das Zimmer fertig war, nur zwei Tage bevor Preben endlich kommen würde, war ich zufrieden. Glück ist etwas Kindliches, und ich gehe immerhin auf die Vierunddreißig zu. Aber ich freute mich natürlich. Ich freute mich.
Das Zimmer war bereit. Auf dem Mond saß rittlings ein kleiner Junge. Blond, mit einer Angel in der Hand, einem Bambusstöckchen mit Schnur und Schwimmer, und unten, am Haken befestigt: ein Stern. Ein Tropfen überschüssiger Goldfarbe zog sich schmal wie ein Strich zur Fensterbank hinunter, als sei der Himmel kurz vorm Schmelzen.
Endlich würde mein Sohn kommen.
Ich habe Schmerzen.
Alles tut weh, ein großer Schmerz ohne Anfang oder Ende.
Ich glaube, ich muß sterben.
Ich kann nicht sterben. Am 19 . Juni werde ich mein Projekt zu Ende führen. An Prebens Geburtstag. Ich habe Preben verloren, aber ich habe ihn mir zurückgeholt, indem ich den anderen ihre verdiente Strafe verpaßt habe. Denen, die mich im Stich gelassen haben. Alle haben mich im Stich gelassen, immer.
Wir hatten uns geeinigt, daß er Joakim heißen sollte. Er sollte meinen Nachnamen bekommen. Er sollte Joakim Åsli heißen, und ich kaufte eine Eisenbahn. Ellen war sauer, als ich die ins Krankenhaus brachte. Sie hatte wohl ein Schmuckstück erwartet, als ob sie einen Orden verdient hätte. Ich ließ die Märklin-Lokomotive über sein Gesicht rattern, und er öffnete tatsächlich die Augen und lächelte. Ellen wandte sich ab und behauptete, es sei nur eine Grimasse gewesen.
Ich wäre ein großartiger Vater geworden. So bin ich nun einmal.
Ich bin klein und stehe auf dem Küchentisch, in einer gesteppten Latzhose mit Jacke, die jemand mir geschickt hat. Später habe ich Mama gefragt: Hat Papa mir ein Geschenk geschickt? Sie hat diese Frage nie beantwortet. Obwohl ich damals erst vier war, kann ich mich an die Briefmarken erinnern, sie waren groß und fremd, das Packpapier war von Stempeln und seltsamen Briefmarken übersät. Der Overall war blau und federleicht, und ich wollte damit im Schnee spielen. Oma riß ihn mir vom Leib. Und verschenkte ihn weiter.
Immer haben andere das bekommen, was mir gehörte.
Ellen und das Kind verschwanden. Sie hat mich nicht einmal als Vater angegeben. Ich brauchte vier Monate, um in Erfahrung zu bringen, daß der Junge Preben heißt.
Ich muß mein Projekt vollenden. Ich muß leben.
Jemand hält meine Hand. Mama ist das nicht. Es ist ein Mann.
Ich habe niemals einen Vater gehabt. Meine Großmutter verzog das Gesicht, wenn ich nur danach fragte. Mama wandte sich ab. In einem kleinen Ort bekommt der Vaterlose tausend Väter. Immer neue Namen wurden in den Ecken getuschelt, in der Schule, in Versammlungslokalen, beim Spielen. Es war unerträglich. Und ich wollte doch nur Bescheid wissen. Ich brauchte keinen Vater, aber ich wollte Bescheid wissen. Ich brauchte nur
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