In kalter Absicht
du in dieser Grabkammer erlebt hast.
Als sie das Zimmer verließ, langsam und vorsichtig, um das Kind nicht zu erschrecken, fiel ihr Blick auf eine Herrenunterhose, die vor der Tür auf dem Boden lag. Sie war verwaschen und grün, und ein aufgedruckter Elefant hob am Schlitz frech seinen fetten Rüssel.
»Großer Gott«, stöhnte Inger Johanne in Emilies verfilzte Haare.
68
Es war zwei Uhr, in der Nacht auf Freitag, den 9. Juni 2000. Aus der tiefhängenden Wolkendecke über Oslo fiel Nieselregen. Die Meteorologen hatten Trockenheit und milde Nächte versprochen, aber draußen waren es kaum mehr als fünf Grad. Inger Johanne schloß die Balkontür. Sie hatte das Gefühl, seit einer Woche nicht mehr geschlafen zu haben. Als sie versuchte, die Tropfen zu beobachten, die ruckhaft das Wohnzimmerfenster hinunterglitten, bekam sie Kopfschmerzen. Als sie versuchte, sich zu recken, spürte sie Stiche im Kreuz. Trotzdem konnte sie einfach nicht ins Bett gehen. Auf der Fensterscheibe im Wohnzimmer, ungefähr in Hüfthöhe, deutlich vor dem unklaren Wassermuster auf der anderen Seite, sah sie Kristianes Handabdrücke. Mollige Finger gespreizt wie ein Blütenblatt. Inger Johanne streichelte die Abdrücke.
»Wird Emilie jemals darüber hinwegkommen?« fragte sie leise.
»Kaum. Aber sie ist jetzt zu Hause. Sie wollten sie im Krankenhaus behalten, aber ihre Tante war damit nicht einverstanden. Sie ist selbst Ärztin und meinte, das Kind sollte zu Hause sein. Für Emilie wird gut gesorgt, Inger Johanne.«
»Aber wird sie jemals darüber hinwegkommen?«
Wenn sie mit der Hand ganz leicht darüber strich, ganz vorsichtig, meinte sie die Wärme von Kristianes Hand in dem glatten Glas spüren zu können.
»Nein. Willst du dich nicht hinsetzen?«
»Ich habe Rückenschmerzen.«
Yngvar rieb sich das Gesicht und gähnte ausgiebig.
»Es muß ein schrecklicher Beziehungskrach gewesen sein«, begann er noch während des Gähnens. »Karsten Åsli hat sich bemüht, seinen Sohn zu sehen, seit der Junge geboren wurde und die Mutter einen Tag vor ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus verschwand. Karsten Åsli sei ungeeignet, ein Kind zu versorgen, behauptete sie durch drei Instanzen und fünf Gerichtsverhandlungen. Ein gefährlicher Mann, beharrte sie stur. Sigmund hat heute nachmittag eine Kopie aller Dokumente bekommen. Karsten Åsli hat alle Prozesse gewonnen, aber die Kindesmutter legte Widerspruch und Berufung ein und spielte auf Zeit … Am Ende setzte sie sich einfach ab. Ins Ausland, vermutlich. Alles deutet darauf hin, daß Karsten Åsli nicht wußte, wo sie war. Er wandte sich an ein Detektivbüro …«
Yngvar lächelte freudlos.
»… nachdem die Polizei bloß mit den Schultern gezuckt und gemeint hatte, sie könne nichts tun. Die Detektei berechnete fünfundsechzigtausend Kronen für eine Reise nach Australien. Die nichts anderes erbrachte als einen dreiseitigen Bericht darüber, daß Ellen Kverneland und ihr kleiner Junge sich vermutlich auch hier nicht aufhielten. Das Detektivbüro wollte noch ein paar Spuren in Lateinamerika untersuchen, aber Karsten Åsli hatte kein Geld mehr. Das ist ungefähr das, was wir bisher wissen. In ein paar Tagen erhalten wir vielleicht ein vollständigeres Bild. Häßliche Geschichte.«
»Alle Beziehungsstreitigkeiten sind häßlich«, sagte Inger Johanne matt. »Was glaubst du wohl, warum ich mich auf das gemeinsame Sorgerecht eingelassen habe?«
»Ich dachte vielleicht …«
Sie unterbrach ihn:
»Diese Ellen Kverneland hat recht gehabt, mit anderen Worten. Kein Wunder, daß sie abgehauen ist. Karsten Åsli hat sich bestimmt nicht gerade als Traumvater gezeigt. Aber das in einem Gerichtssaal plausibel darzulegen ist fast unmöglich. Der Mann war ein unbeschriebenes Blatt, und er wußte offenbar, wie er sich benehmen mußte, um Eindruck zu machen.«
»Aber die Sache an sich, der Beziehungskrach, kann doch …«
»Einen Psychopathen aus ihm gemacht haben? Nein. Natürlich nicht.«
»Das ist vielleicht das Schlimmste«, sagte Yngvar. »Daß wir nie erfahren werden, warum er … Wer Karsten Åsli eigentlich war. Was er war. Warum er das getan hat …«
Inger Johanne schüttelte langsam den Kopf. Das Fensterglas unter den Fingerkuppen war jetzt eiskalt, sie steckte ihre Hände in die Taschen.
»Das Schlimmste ist, daß drei Kinder tot sind«, sagte sie. »Und daß Emilie vermutlich nie …«
Sie konnte und wollte nicht mehr weinen. Die Augen liefen trotzdem über, und sie fühlte
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