In kalter Absicht
immer, jetzt stärker, und Inger Johanne spürte, wie ein frischer Morgenwind durch das halboffene Fenster kam und unter der Schlafanzughose über ihre Beine strich. Die Meteorologen hatten endlich recht behalten.
»Das wird ein schöner Tag«, sagte Yngvar und ließ sie nicht los. »Ich glaube wirklich, der Sommer ist gekommen, Inger Johanne.«
69
Als Inger Johanne am Freitag, dem 9. Juni, vormittags Aksel Seier in der Rezeption des Continental sah, erkannte sie ihn kaum wieder. In Harwichport hatte er ausgesehen wie ein Fischer und Gelegenheitsarbeiter aus einer Kleinstadt in Neuengland, gekleidet in Jeans und kariertes Flanellhemd. Jetzt sah er eher aus wie ein Tourist aus Florida. Er hatte sich außerdem die Haare geschnitten und konnte seine Augen nicht mehr verstecken. Sein Gesicht war ernst. Er lächelte nicht einmal bei ihrem Wiedersehen und bot ihr keinen Sessel an. Er schien keine Zeit verlieren zu wollen. Als er ihr erzählte, daß sein Sohn nach einem schweren Unfall im Krankenhaus lag, sprach er Englisch mit ihr. Jede Stunde sei kostbar, sagte er tonlos. Er müsse zu ihm.
»Soll ich«, setzte Inger Johanne an und zögerte, vollständig verwirrt angesichts der Tatsache, daß Aksel Seier einen Sohn hatte, einen Sohn, der in Norwegen lebte, einen Sohn, der jetzt im Krankenhaus lag und vielleicht sterben würde. »Möchten Sie Gesellschaft haben? Do you want me to come? Keep you company?«
Er lächelte.
» Yeah. I think so. Thanks.«
Erst im Taxi ging ihr der Zusammenhang auf.
Danach, in den folgenden Tagen und Wochen, jedesmal, wenn sie noch einmal versuchte zu begreifen, was im Taxi passiert war, auf dem Weg ins Krankenhaus, wo Karsten Åsli bald sterben würde, dachte sie an ihren Mathematiklehrer am Gymnasium.
Aus irgendeinem Grund hatte sie sich für den naturwissenschaftlichen Zweig entschieden. Vielleicht, weil sie eine gute Schülerin war, und die guten Leute gingen auf den naturwissenschaftlichen Zweig. Inger Johanne hatte die Mathematik nie kapiert. Komplizierte Zahlen und mathematische Zeichen blieben sinnlose Hieroglyphen; stumme Symbole, die sich Inger Johannes eifrigen Deutungsversuchen widersetzten. Bei der Prüfung im zweiten Oberstufenjahr hatte sie dann ein Erlebnis, das sie später als eine Art Offenbarung betrachtete. Die Zahlen sagten ihr plötzlich etwas. Die Gleichungen gingen auf. Es war wie ein Blick in eine fremde Welt, in ein streng logisches Dasein. Am Ende der schönen Reihen von Zeichen und Zahlen kamen die Antworten. Der Lehrer beugte sich über ihre Schulter, er roch nach altem Mann und Kampferdrops und flüsterte:
»Sieh an, Inger Johanne. Sieh an. Die junge Frau Vik hat das Licht erblickt.«
Und damit hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen.
Aksel hatte von Karsten erzählt. Sie reagierte nicht. Er erzählte von Eva. Sie hörte zu. Dann nannte er beider Nachnamen, eher zufällig, fast in einem Nebensatz, als das Taxi vor dem Krankenhaus vorfuhr.
Und sie hatte das Gefühl, daß nichts sie noch überraschen konnte.
Sie bekam eine leichte Gänsehaut. Das war alles.
Die Gleichung ging auf. Karsten Åsli war Aksels Sohn.
»Sieh an, Inger Johanne«, flüsterte der Mathelehrer und saugte schmatzend an seinem Bonbon.
»Die junge Frau Vik hat das Licht erblickt!«
Auf dem Flur standen zwei in Zivil gekleidete Polizisten, doch Aksel Seier achtete kaum auf die beiden. Inger Johanne begriff, daß er von den Verbrechen seines Sohnes noch nichts wußte. Sie betete in Gedanken darum, daß das so bleiben würde, bis alles vorüber wäre.
Sie legte Aksel Seier die Hand auf die Schulter. Er blieb stehen und schaute ihr in die Augen.
»Ich habe eine Geschichte für Sie«, sagte sie leise. »Gestern … ich habe endlich die Wahrheit über den Mord an Hedvig erfahren. Sie sind wirklich unschuldig.«
» I know that«, sagte er tonlos und ohne mit der Wimper zu zucken.
»Ich werde Ihnen alles erzählen«, sagte Inger Johanne dann. »Wenn das hier …«
Sie schaute kurz zu Karsten Åslis Zimmertür hinüber.
»Wenn das alles überstanden ist. Dann werde ich Ihnen erzählen, was damals passiert ist.«
Aksel legte die Hand auf die Klinke.
»Und noch etwas«, sagte sie und hielt ihn zurück. »Es gibt eine alte Frau. Sie ist sehr krank. Es ist ihr Verdienst, daß die Wahrheit endlich ans Licht gekommen ist. Sie heißt Alvhild Sofienberg. Ich möchte Sie zu ihr bringen. Später, wenn das hier vorüber ist. Versprechen Sie mir, daß Sie mitkommen?«
Er nickte schwach und
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