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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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umrankt.
    Am folgenden Vormittag besuche ich auf dem Gelände eine Ausstellung über Vivekananda. In einer Halle mit Pfeilern aus
Tropenholz, voller Statuen und Wandtafeln, zwischen tobenden Kindern und unter Schildern, die zur Ruhe gemahnen, lese ich, dass jener Mann, dessen populärstes Porträt ihn schwarz-weiß, mit bockigem Gesicht und avantgardistisch über das linke Ohr gezogenem Turban präsentiert, ein Wanderer ist wie ich. Ich lerne, dass der brahmanische Advokatensohn aus Kalkutta nach einer jahrelangen Pilgerreise kreuz und quer durch sein Heimatland hier auf der Südspitze Erleuchtung fand. Dass er ein Dampfschiff in die USA bestieg, um 1893 als ungeladener Redner auf dem Weltkongress der Religionen die Kultur Hindustans zum Antidot gegen den westlichen Materialismus zu erklären. Und mit einer Handvoll amerikanischer Jünger auf den Subkontinent zurückkehrte.
     
    Am Nachmittag will ich endlich das eigentliche Kap besuchen, den geografischen Südpol Indiens. Weil auf meiner Straßenkarte dort ein Badestrand eingezeichnet ist und ich mich angesichts der bevorstehenden körperlichen Ertüchtigungen fit halten will, ziehe ich die Badehose unter die lange Trekkinghose, klemme ein Handtuch unter den Arm, deponiere meine Wertsachen im Mülleimer meines Zimmers und klettere in ein Zweitaktertaxi. Nach zehn Minuten Fahrt hält es prustend an einer Kreuzung im Herzen Kanyakumaris, auf der mobile Schuster und Kugelschreiberhändler im Staub sitzen und ihre Waren anpreisen. »Da unten geht es zum Strand«, sagt der Fahrer.
    Ich mache zwei Schritte in die entsprechende Richtung, dann werde ich mitgerissen. Ein Strom von Menschen saugt mich auf. Ich bin eingequetscht zwischen Touristen und Pilgern, zwischen den Schultern krakeelender Sikhs mit leuchtenden Turbanen und den Bäuchen bürgerlicher Bundfaltensynthetik-Träger. Ich weiche gebrechlichen bengalischen
Mütterchen aus, die gewaltige Broschen in den Nasenflügeln tragen, und beseelt singenden Gruppen glutäugiger tamilischer Brahmanen mit schweren Goldketten auf athletischen Brustkörben. Ich werde durch ein Marktviertel gezogen, überdachte Stände, an denen Händler Haushaltselektronik und Lederwaren, Textilien und Schmuck anbieten. Jenseits des Basars krümmt sich der Strom zu einem Strudel, der sich um die zehn Meter hohen, mit rot-weißen Querstreifen versehenen Mauern des Tempels der jungfräulichen Göttin Kumari Amman dreht. Es gelingt mir kaum, mich aus den Massen der barfüßigen Pilger herauszuwinden, um zu einem offenen Plateau oberhalb der Steilküste zu gelangen.
    Auf der abschüssigen Ebene verteilen sich die Massen. Hier herrscht Volksfeststimmung. Kinder wippen auf einem von niedrigen Metallzäunen begrenzten Spielplatz. Zwei krächzende Lotterietrommeldreher, ein uniformierter Eishändler und ein Zuckerwatteverkäufer preisen ihre Waren an. Ein knochiger Muslim führt eine Mähre mit einer jungen Urlauberin über den dünnen Rasen.
    Vom Felshang blicke ich hinab ins Wasser. Dies ist der südlichste Flecken des indischen Subkontinents. Von hier bis Madagaskar gibt es nichts als den Ozean. Dieser Ort ist den Indern heilig. Und für mich der eigentliche Ausgangspunkt der bevorstehenden Reise. Zu meinen Füßen strömen die Fluten von Indischem Ozean, Arabischem Meer und Golf von Bengalen graublau ineinander. Von schwarzen Felsen stürzen sich Scharen von halb nackten Pilgern und Neujahrsurlaubern in die richtungslosen Wassermassen. Fischer schieben blauweiß lackierte Boote in die Flut. Offene Schuten pendeln randvoll mit menschlichen Körpern zum Vivekananda Rock, jenem Inselchen, auf dem der Swami aus tiefster Meditation heraus universale Erkenntnis erlangte. Ein Wanderasket, einen
zerzausten Affen auf der Schulter, meditiert mit irrem Blick auf einem gischtnassen Stein. Im feinen Sand davor sitzt ein dicker weißer Mann und lässt sich das Salzwasser zwischen die Beine spülen. Ich fände es respektlos, an diesem Ort einfach nur zu baden.
    Ich schlendere die Küste entlang. Ein feuchter Wind fährt raschelnd in die Kokoshaine. Er riecht nach Salz und Urin. Gemächlich passiere ich die zwiebelförmige, rosafarbene Gedenkstätte für Mahatma Gandhi und die vierzig Meter hohe Statue des bärtigen vorchristlichen Tamil-Dichters Tiruvalluvar. An der weißen Fassade einer stuckverzierten Kirche gehen zwei kaum zu erkennende Glühbirnen an.
    Ich setzte mich in das Restaurant des Hotel Seaview. Es gilt als das beste am Ort. Ein rotlivrierter

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